Buad steht vor dem Eingang zu seinem Laboratorium. Der Blick des zwergischen Alchimisten schweift über die weiten Ebenen der ihm vertrauten Landschaft, und auch wenn er es nicht zugeben würde – erst recht nicht gegenüber Elfen – genießt er den warmen Sonnenschein und das junge Grün der erwachenden Natur ebenso wie das leicht bittere, würzige Aroma der klaren Luft. Die dicke, gepanzerte Tür zu seinen bunkerähnlichen Versuchsräumen ist weit geöffnet, ebenso wie sämtliche Abzugsöffnungen – der muffige Geruch des seit Monaten verlassenen und ungelüfteten Laborgewölbes hatte erstaunlicherweise der Nase des Zwerges missfallen, der die letzten Monate fast unentwegt im Freien verbracht hatte.
Ein leises, beruhigendes Summen weht aus den Räumen hervor – die Geräusche eines mechanischen Gerätes, das unentwegt einen der Versuchsansätze rührt. Die Erfolge, mit denen die Entwicklung der Creme in Riesenschritten voranschreitet, sind dem Zwerg schon beinahe unheimlich. Die gegenwärtigen Ansätze laufen noch immer unter der ersten Versuchsnummer – ein Zeichen dafür, dass bisher weder etwas in einer unvorhersehbaren exothermen Reaktion explodiert noch polymerisiert war. Wann immer ein Tropfen des Urdwassers oder des Wurzelsaftes der Yggdrasil den Mischungen zugesetzt wird – die Atome und Moleküle scheinen von selbst und bereitwillig den richtigen Platz einzunehmen, und die Ergebnisse übersteigen selbst die kühnsten Erwartungen des Zwergs. Zugegeben, die Dosierung des nach wie vor für den Alchimisten unsichtbaren Urdwassers war nur mit Hilfe eines ausgeklügelten gnomischen Apparates möglich, doch an den verblüffenden Resultaten änderte diese kaum nennenswerte Unbequemlichkeit nichts.
Entgegen der Meinung vieler weiß Buad durchaus, was Skrupel sind. Mit einem Schauer denkt er an die vielen geheimen Rezepte, die er in den Tiefen der unterirdischen und schwer gesicherten Katakomben seines Gewölbes aufbewahrt. Die schlimmste vorstellbare Wirkung seines Tees nimmt sich neben den Wirkungen der Substanzen, die mithilfe dieser Rezepte präpariert werden könnten, wie eine Schneeflocke neben einem Eisberg aus. Mit Hilfe dieser Rezepte ist die Konstruktion ultimativer Waffen möglich. Waffen, deren Wirkung alles vorstellbare übertreffen würde, die blühende Landstriche für Jahrhunderte in trostlose, lebensfeindliche Einöden verwandeln würden, das alles verzehrende Feuer der Sonne hinab auf die Erde bringen oder Millionen von Lebewesen binnen Sekunden durch geruchlose und unsichtbare Gase einen qualvollen Tod sterben lassen könnten. Selbst die Hölle könnte durch einige dieser Waffen restlos ausgelöscht und vernichtet werden. Und irgendwo in all den Welten und Unwelten, da ist sich der Zwerg sicher, würde es immer jemanden geben, der verrückt genug wäre, eine solche Waffe einzusetzen.
Die gegenwärtige Entwicklung stellt das genaue Gegenteil zu diesen vernichtenden Rezepturen dar, und doch – würde sie nicht, wie jene tödlichen Gemische, die Welt selbst aus dem Gleichgewicht werfen? Wenn die ultimativen Waffen verborgen werden, sollte dann für das ultimative Elixier nicht besser das Gleiche gelten? Wenn man der Welt zuviel Tod und Vernichtung geben kann, dann kann man sie gewiss auch durch zuviel Leben und Fortbestand schädigen.
Ein weiteres Mal seufzt der innerlich entzweite Zwerg. Er ist sich durchaus bewusst, dass es ihm ohne seine Begleiter niemals gelungen wäre, auch nur eine der beiden Zutaten - das Wasser aus dem Urdbrunnen und den Wurzelsaft des Weltenbaumes Yggdrasil - zu erlangen. Und das, obwohl einige seiner Gefährten spitze Ohren hatten. Beide Substanzen waren unter so vielen Mühen und Gefahren geborgen worden, dass es beinahe einem Verrat gleichkäme, sie nicht zu verwenden. Und doch – welcher „Verrat“ würde wohl schwerer wiegen?
Der Zwerg erinnert sich an das Ende der Reise zurück, nachdem Baba Yuga vor Wut geplatzt und der alte Zustand in die Welt zurückgekehrt war. Niemand wusste genau, ob die Enklave, in der die Llothpriesterin, der Bergkönig und ihre Begleiter zu Hause waren nun gerettet war. Falls nicht, so würde irgendwann demnächst das Ende der Welt bevorstehen, wie sie es kannten, denn mit dem Versiegen der Quelle der Magie würde sich diese verbrauchen, und die Orks und Menschen würden ihren unaufhaltsamen Siegeszug anbrechen. Immerhin waren sich sowohl die Dunkelelfin als auch der Bergkönig in einem Punkt einig: Mit hoher Wahrscheinlichkeit war es Baba Yuga gewesen, die die Quelle besudelt hatte. Untrennbar, wenn auch auf indirekte Weise mit dem Weg der Abenteurer verbunden, herrschten gute Aussichten, dass mit dem Ableben der Hexe der Prozess des Versiegens der Magie rückgängig gemacht worden war. Ungeklärt blieb allerdings, wie die Hexe überhaupt die Quelle erreichen konnte, geschweige denn wie es ihr gelang, sie sich zumindest teilweise nutzbar zu machen. Die Augen der Drowpriesterin hatten gefährlich gefunkelt, und Buad war sich sicher, dass sie der Sache auf den Grund gehen würde – wenn auch nur deshalb, um diese Macht möglicherweise für sich selbst und ihre unlauteren Ziele zu nutzen. Sicher hätte eine Untersuchung des Kristalls zumindest teilweise Aufschluss geben können. Allem Anschein nach hatte es sich nicht um einen gewöhnlichen Edelstein gehandelt. Möglicherweise war es sogar einer der sehr seltenen und äußerst begehrten Karfunkelsteine, denen viele ungewöhnliche Kräfte nachgesagt werden. Doch irgendwie hatte sich in der Aufregung niemand um das kostbare Artefakt gekümmert. Zwar kann sich Buad daran erinnern, dass er zu dem gewaltigen Drachen gebracht worden war – was jedoch weiter mit dem Stein geschah, war seiner Aufmerksamkeit entgangen. Die Dunkelelfin jedenfalls hatte sich kurzerhand wegteleportiert, und sogar ihren kahlköpfigen Begleiter zurückgelassen. Selbst die Konfrontation mit ihrem ehemaligen Geliebten schien sie in ihrer neuerwachten Gier vergessen zu haben. Der Bergkönig und sein Gefolge waren kurz danach aufgebrochen und dank der Macht des Geoden mitten im Fels verschwunden. Und der Drache...?
Buad muss unwillkürlich schmunzeln, als er an den winzigen Nidhöggr und seinen riesigen "Verwandten" zurückdenkt. Der kleine Drache, der sich selbst als Metapher bezeichnete, war vor dem anderen, gewaltigen Drachen aufgeregt herumgeflattert, und sie hatten sich eine Weile angefaucht und angeknurrt. Er hatte in dem gewaltigen Drachen ein Weibchen erkannt und sich schlichtweg verliebt – und es hatte ganz den Anschein, als hätte die beschworene Kreatur der Werbung des Neiddrachens nur zu gerne nachgegeben. Auf die erstaunten Hinweise der Abenteurer, dass doch die Größe der beiden Drachen recht unterschiedlich und eine Paarung daher wohl mit Komplikationen verbunden sei, hatte der winzige Drache nur verschmitzt mit den Augen gezwinkert und ein weiteres Mal darauf hingewiesen, dass er als Urbild aller Drachen ja in jeder Dimension und folglich auch in jeder beliebigen Größe existieren würde – und als Metapher sowieso Möglichkeiten hätte, die kein anderer aufweisen könnte! Schließlich hatten sich die beiden Frischverliebten und sehr, sehr glücklichen Drachen weniger majestätisch, aber auf jeden Fall sehr eindrucksvoll in die Luft erhoben und waren in der Ferne verschwunden, nachdem sie versehentlich einen großen Teil der Bäume entweder umgeknickt oder binnen Millisekunden in ein Häufchen Asche verwandelt hatten.
Zu guter Letzt hatten sich auch die Duergar und die Goblins in die Wälder getrollt, und der Rest der Abenteurer blieb allein zurück. Sie hatten eine Weile erfolglos versucht, den schlafenden Alrik zu wecken. Während sie noch diskutierten – wobei Buad die Ansicht vertrat, dass ein wenig Tee sicher für Munterkeit sorgen würde, was aber von allen anderen kategorisch abgelehnt wurde - trat mit einem Mal ein Einhorn aus dem Wald. Sprachlos hatten sie mitangesehen, wie das Wesen den schlafenden Streuner mit seinem Horn sanft an der Brust berührte, und wie ein Glühen von einem halb verborgenen Amulett ausging. Wie in Trance hatte sich der Streuner erhoben und war mit dem Einhorn zusammen in den Wald gegangen, wo er schnell den Blicken der Zurückgebliebenen entschwand.
Kurze Zeit später hatten sich auch die anderen noch verbliebenen Gefährten zurückgezogen, und der Alchimist hatte sich allein im Chaos der zertrümmerten Tische und Bänke auf der Lichtung wiedergefunden und war schließlich ebenfalls heimgekehrt, begierig darauf, mit den Arbeiten an seiner Creme zu beginnen...
Buad seufzt erneut und atmet tief die frische Luft ein, während er den Erinnerungen an die Reise nachhängt und aus dem Gewölbe hinter ihm das eintönige Summen des Rührers dringt. Unvermittelt stutzt er. Seine Finger waren in einer seiner vielen Taschen an einen kleinen, kugelförmigen Gegenstand gestoßen, der sich sonderbar und warm anfühlt. Vorsichtig zieht er die Hand mitsamt der Kugel aus der Tasche und betrachtet sie auf der ausgestreckten Handfläche. Sie ist ungewöhnlich schwer, und in ihrem Inneren bilden Milliarden winziger Lichtpunkte eine leuchtende, spiralförmige Wolke, die langsam um einen hellen Mittelpunkt rotiert. Ein Lächeln breitet sich über das bärtige Gesicht des Alchimisten aus, als er die Kugel wiedererkennt. Es ist einer jener Splitter, die sich aus dem erstarrten Harz des Weltenbaumes gebildet hatten. Nidhöggr hatte behauptet, im Inneren der Kugel würde sich eine ganze Welt verstecken.
Neugierig betrachtet der Zwerg die kleine Kugel, kann jedoch außer der leuchtenden Nebelwolke nichts erkennen.
„Eine ganze Welt...“ murmelt er nachdenklich.
Lange steht der Alchimist unschlüssig da, die Kugel auf der ausgestreckten Hand betrachtend. Der Tag neigt sich bereits seinem Ende, und die blutrote Sonnenscheibe ist schon zur Hälfte hinter dem fernen Horizont verschwunden, als er schließlich behutsam die Hand, die die Kugel hält, schließt.
„Vielleicht... vielleicht werde ich sie eines Tages besuchen...“ murmelt er zufrieden und lässt seinen Blick über die Ebene vor ihm schweifen. „Zusammen mit einigen Gefährten... Doch jetzt noch nicht. Noch nicht.“
Mit diesen Worten tritt der Zwerg in sein Laboratorium zurück. Lautlos und langsam schließt sich die schwere Tür hinter dem Alchimisten, während draußen die Nacht ihr sanftes Tuch der Dunkelheit ausbreitet, nur durchbrochen vom funkelnden Licht der ungezählten Sterne...