Erschöpft trottet Lu Ser zum Wasserfall. So kann er wenigstens für ein par Minuten den Spottgesängen seiner Klassenkameraden entgehen.
Wieder einmal ist er beim alljährlichen Wettfliegen letzter geworden. Warum wächst er nicht endlich wie alle anderen? Und was meint seine Mutter nur immer, wenn sie ihn mitleidig anblickt, seufzt und etwas von »degeneriert« erzählt? OK, er ist nicht einmal halb so groß wie seine Alterskameraden und seine Klassenkameraden können tolle Zauber weben. Er verheddert sich dagegen immer wieder in den Kraftfäden und diverse Macken und Narben zeugen von seiner Unfähigkeit. Nur andere Tiere herbeirufen kann er wirklich gut (zumindest, solange sie klein und willig sind).

Aber wie soll er auch Abenteuer bestehen können wie eine echte Drachenechse, wenn er doch jedes Mal ganz durchsichtig wird, wenn er sich erschreckt. Seine Klassenkameraden lieben es geradezu, ihn zu erschrecken und anschließend zu verspotten.

Naja, ein Vorteil daran, nur etwa einen halben Meter groß zu sein, liegt auf der Hand: Niemand von den Riesen, wie er sie halb neidisch, halb verächtlich nennt, kann ihm ins Innere der alten Ruine folgen, in deren Dachstübchen es sich so herrlich spielen und träumen lässt.

Spontan beschließt Lu Ser, heute den Unterricht in Menschenkunde ausfallen zu lassen und sich stattdessen in der Ruine zu vergnügen. Er schlüpft durch einen herausgebrochenen Stein und wendet sich ausnahmsweise einmal dem Kellergewölbe zu. "Pah!", denkt er, "Ich bin stark und mutig! Ich habe keine Angst!". Leise murmelt er diese Worte wie ein Mantra vor sich hin. Ganz schön dunkel hier unten ... und so kalt. Lus Mut sinkt rapide. Schnell wieder nach oben!

Dummerweise schlägt Lus unpraktisch langer Schwanz bei seiner schnellen Kehrtwende eine der beiden nahestehenden Ritterrüstungen um. In heller Panik (und zu seinem Leidwesen schon wieder ganz durchsichtig) rennt Lu in die Richtung, in der er den Ausgang weiß, nun ja vermutet, nun ja ... Inmitten scheppernder Rüstungsteile hat Lu Ser inzwischen völlig die Orientierung verloren. Wild flattert er umher. Aber dort! Eine andere Drachenechse! Lu breitet die Schwingen aus und fliegt ihr entgegen.

Mit einem lauten Klirren zerbricht der Spiegel. Die Scherben zerkratzen den vor Angst halb toten Lu und er bekommt gar nicht mehr mit, dass er sich in einem roten Wölkchen auflöst und erst in einem dunklen Wald wieder in die Wirklichkeit eintritt. Mit einem dumpfen Plumpsen fällt er auf den Waldboden, nur spärlich beleuchtet von einem Lagerfeuer, um das sich einige Meter entfernt einige Personen gescharrt haben. Regungslos bleibt er liegen. Nur seine Schwanzspitze leuchtet in einem pulsierenden, dunklen Rot.