"Mir ist der Sinn dieses ganzen Unternehmens nicht klar!" stellt der Hüter fest. Graue Strähnen in seinem gepflegten Bart weisen darauf hin, dass es sich um einen älteren, erfahrenen Kämpen handelt.

"Wir suchen Stone, töten ihn und nehmen seine Karte an uns." erklärt der hünenhafte Anführer des fünfköpfigen Hütertrupps, ohne sich auf seinem Pferd umzuwenden. "Und die Spuren weisen darauf hin, dass er sich noch außerhalb der Brecher aufhält."

Der ältere Hüter lacht ohne jeden Humor.
"Die Spuren! Wir haben schon lange keine Spuren mehr gesehen! Wir hätten besser ein paar Fährtenleser mitnehmen sollen - aber nein, wir mussten ja Hals über Kopf zu einem derart unsinnigen Unternehmen aufbrechen! Ohne jede Vorbereitung! Wenn wir weiter in diese Richtung reiten, werden wir jedenfalls bald in Rechem ankommen!"

"Es gab Anzeichen dafür, dass Stone mit einer Gruppe Berittener Richtung Rechem unterwegs war!" verteidigt sich der Hüne. "Und wenn Stone in Rechem ist, werden wir eben die ganze Stadt auf den Kopf stellen und ihn finden, oder dabei sterben!"

Erneut lacht der ältere Hüter. "Du kennst doch Stone auch! Meine Güte, ich wurde gerade in die Reihen der Hüter aufgenommen, als er noch eifrig mit einem Holzschwert spielte! Ich sah ihn aufwachsen, vom Kind zum Knaben, und vom Knaben zum Manne reifen! Er war ohne jeden Argwohn und dem Prälaten immer treu ergeben - warum sollte jemand wie Stone eine Gefahr für uns darstellen?"

Der Hüne kneift die Lippen zusammen, bevor er gepreßt antwortet: "Er ist im Auftrag von Ferrwar, dem Verräter unterwegs - und sein Ziehsohn!"

"Verdammt!" entfährt es dem älteren Hüter. "Ferrwar war unser aller Vorbild, es gab keinen unter uns, der edler war als er! Ich habe seinen Leichnam gesehen - er ist grausam entstellt gewesen! Jemand wie Ferrwar ist gar nicht fähig, einen Verrat zu begehen! Da ist was im Busche, sage ich dir! Da läuft was gar nicht so, wie es sein soll!"

"Sei ruhig!" fährt ihn der Anführer an, nicht ohne Zorn in der Stimme. "Ich will davon nichts hören!"

"Menschenskinder!" engegnet der Veteran ungeduldig. "Ich will doch nur, dass du mal deinen Kopf anstrengst und darüber nachdenkst, was geschehen ist!"

"Ich wurde nicht zum Nachdenken ausgebildet!" kontert der jüngere Hüter eisig. "Es ist unsere Pflicht, für den Prälaten zu kämpfen - das Nachdenken übernehmen andere für uns!"

"Oh ja!" höhnt der ältere. "Das ist genau das, was euch Dralfens beibringt, nicht war? Ferrwar hat uns immer ermuntert, der Sache und nur dieser dienlich zu sein. Der Kodex fordert, dass jede Tat hinterfragt wird, damit nicht ein Unheil mit einem anderen beglichen wird! Ein Hüter, der nicht in der Lage ist, seinen Kopf zu benutzen, hat schon längst die Sache und den Kodex aus den Augen verloren!"

Der Anführer fährt herum, und nun schwingt unüberhörbar Wut in seiner Stimme mit. "Soll ich dir mal sagen, warum du noch immer keinen Trupp führst, alter Mann? Weil du zuviel mit Denken beschäftig bist und zuviel dem Geschwafel eines alten Narren zugehört hast! Weil du zu viele Fragen stellst und zu lange zögerst! Unser Kodex ist der Stahl unserer Klingen, und der Prälat bestimmt, wessen Fleisch sie zerschneiden!"
"Das ist nicht der Kodex der Hüter, das ist der Kodex des Prälaten!" erwidert der ältere Hüter hitzig. "Aber auch er muss sich den Regeln der Hüter unterwerfen! Er bestimmt nicht den Kodex, sondern er hat ihm zu dienen! Und wenn ihr jungen Schnösel in Ferrwar nicht immer nur den unbesiegbaren Meister gesehen, sondern ihm auch mal zugehört hättet, würdet ihr auch den wirklichen Hüterkodex begreifen!"

"Halt endlich die Klappe, Bloodwin!" grollt der Anführer. "Sonst schlage ich dir persönlich den Blutadler in den Rücken!"

"Ja, ich habe schon festgestellt, dass die Grausamkeit der jungen Hüter..." Urplötzlich weiten sich die nach vorne gerichteten Augen des älteren, und mit einem "Was zum Henker ist das?!" reißt er das zweihändige Hüterschwert aus seiner Halterung.

Gewarnt durch das Verhalten seines Kontrahenten fährt der Anführer herum. Ohne zu zögern springt er vom Pferd, das schwere Schwert mit Leichtigkeit in einer Hand haltend.
"Formiert euch!" brüllt er. Doch die anderen vier Hüter stehen schon längst in Position und fächern nun langsam auf. Als meisterhafte Kämpfer mit dem zweihändigen Schwert fühlen sich die Hüter am wohlsten, wenn sie die Füße auf dem Boden haben. Mit der Kunst des Reiterkampfes konnten sie sich dagegen noch nie wirklich anfreunden.

Die Waffe der unbeschreiblichen Kreatur, die urplötzlich aufgetaucht war und nun von den fünf erfahrenen Kriegern eingekreist wird, saust herab, ohne ein Geräusch zu verursachen. Der Anführer weicht geschickt aus und setzt zu einem Gegenschlag an, als die feindliche Klinge, entgegen allen Gesetzen der Trägheit, plötzlich wendet und einen seitlichen Schlag vollführt, der dem Hünen beide Beine oberhalb der Knie abtrennt. Todgeweiht stürzt der Anführer zu Boden. Ein Hüter jedoch hat gelernt, mit dem Schmerz zu leben. Die flammende Pein ignorierend, die sich von den Stümpfen rasend schnell durch den Körper ausbreitet, führt der Anführer liegend seine Klinge zur Seite. Für einen kurzen Moment trifft die Hüterklinge auf Widerstand, und ein unangenehmes Zischen erklingt, das jedoch ohne Wirkung bleibt. Ein Ausdruck ungläubigen Entsetztens breitet sich auf dem Gesicht des Anführers aus, als er mit ansehen muss, wie die Kreatur einen der anderen Hüter, der sie von der Gegenseite angreifen wollte, mit einem lässigen, unmöglichen Schlag in zwei Teile spaltet. Kurz bevor ihn die Waffe der Kreatur zerstampft und jedes Leben in ihm erlischt, stößt er den kaum benutzten, aber zwingenden Ruf aus, der jeden Hüter veranlasst, sich von einer vollkommen aussichtslosen Schlacht augenblicklich zurückzuziehen:

"Heute leben, morgen kämpfen!"