Inzwischen ganz woanders:

Lu liegt noch immer zitternd und unsichtbar wenige Meter neben dem tobenden Höllenhund platt ins Gras gedrückt. Jetzt bloß nicht auffallen!

"Du gemeine, selbstsüchtige Fee!" hört Lu die Bestie brüllen, dass seine Ohren sausen. "Hast du mich noch immer nicht genug gequält? Seit Jahren bin ich hier schon eingesperrt. Und nun verspottest du mich mit Illusionen? Was bist du nur für ein Biest!"

Wütend beisst der Höllenhund ins Gras und spuckt das Büschel weit weg. Als er aber weiterhin niemanden finden kann, legt er sich auf die Wiese und bettet seinen großen Kopf auf die Vorderpfoten.

Lu vermeint ein tiefes Seufzen zu hören. Er betrachtet den liegenden Koloss sorgenvoll und schleicht Schritt für Schritt rückwärts zum Metallgitter. Die Fee hatte ihn vor dem Höllenhund gewarnt und seine Erscheinung hatte ihm ein übriges gegeben. Er will nicht als Abendessen dieses Ungeheuers enden!

Aus einiger Entfernung wirkt der ruhende Höllenhund gar nicht mehr so gefährlich, eher niedergeschlagen. Lu hält einen Moment inne und betrachtet das riesige Tier mit schief gelegtem Kopf. War er nicht ebenso ein Gefangener wie die Bestie, nur in einem etwas größeren Käfig? Lu ringt lange mit sich, ob er es wagen soll, den Höllenhund anzusprechen. Er beschließt, sich erst wieder durch das Gitter zu quetschen und dann einen Versuch zu wagen. Scheinbar kann das Ungeheuer den Innenhof ja nicht verlassen.

Hinter dem Metallgitter angekommen räuspert sich Lu zweimal, bevor er mit dünner Stimme zu reden beginnt:

"Hallo, ähh, Höllenhund?! Ich bin keine Illusion. Ich bin Lu Ser, eine Drachenechse!". Dann verlässt ihn sein Mut.

Der Höllenhund hat bei Lus erstem Laut die Augen geöffnet und blickt nun kritisch zum Tor.

"Lu Ser? Was für ein alberner Name! Und du Winzling willst eine Drachechse sein? Einem Maulswurfshaufen, der behauptet der höchste Berg des Universums zu sein, würde ich eher glauben ... Ja los! Beschimpf mich! Wirf mit Steinen nach mir! Was hockst du dort so zimperlich am Tor?"

"Warum sollte ich dich bewerfen?", wundert sich Lu laut. "Du hast mich zwar ordentlich erschreckt, mir aber bisher nichts getan. Und hinter dem Tor bin ich doch außerdem sicher, oder?".

Der Höllenhund trottet langsam heran und fragt genüsslich:

"Bist du dir sicher? Ein Haps von mir und du bist Geschichte! Ich bin hungrig."

Drohend baut er sich vor Lu auf. Dieser wird wieder etwas transparenter und beglückwünscht sich heimlich zu der Idee, sich hinter das Tor zu stellen.

"Aber gerade hast du gebrüllt, dass du gefangen bist. Wie kannst du gefangen sein, wenn du den Innenhof verlassen kannst?"

Der Höllenhund lässt den Kopf hängen.

"Du raubst mir wirklich den letzten Spaß. Kannst du nicht zittern und rennen wie alle anderen. Ich bin wirklich vollkommen unnütz geworden ..."

"Wie kommst du denn hierher?", fragt Lu. "Die Fee hat doch gesagt, hier sei alles schön und gut?"

"Ach, ich bin nur einer der ausrangierten Spielkameraden der Fee. Gestern noch interessant, heute schon überflüssig. Hast du nicht den riesigen Zoo der ausrangierten Wesen gesehen? Ich habe die Fee im Spiel versehentlich einmal verletzt. Deshalb werde ich hier gefangen gehalten. Die meisten anderen dürfen frei umherwandern. Auch dich hält sie scheinbar für harmlos, so ein winziges Wesen."

Lu erschreckt zuerst, als der Höllenhund die Zähne fletscht, erkennt dann jedoch, dass dies der Versuch ist, eine schon fast in Vergessenheit geratene Geste durchzuführen - zu lächeln.

"Du bist nicht böse und gemein und hinterhältig?"

Was für eine dumme Frage, fällt es Lu ein, als er sie gerade eben geäußert hat. Wer würde das schon zugeben. Doch der Höllenhund antwortet ganz ernsthaft:

"Das ist eine Frage des Standpunktes. Die Fee und alle Wesen, die ich verspeist habe, werden genau das von mir denken, doch".

"Aber man muss doch irgendetwas essen! Das zählt nicht."

"Ja, aber alle Mäuse und Hasen, die du in deinem Leben gefressen hast, werden dich auch böse, gemein und hinterhältig finden oder besser gefunden haben. Und, bist du es?"

So hatte Lu das noch nie betrachtet. Bisher hatte er sich immer für ein gutes Wesen gehalten, freundlich und hilfsbereit. Er kommt ins Grübeln.

"Weißt du denn, wie ich von hier wieder in meine eigene Welt komme? Es hat bestimmt irgendetwas mit diesem Amulett zu tun, aber ich weiß nicht was", fragt er den Höllenhund nach einiger Zeit.

"Jaaaa, zweimal Jaaaaaa", antwortet dieser langgezogen und kopfnickend.

Lu fühlt sich wie elektrisiert. Neue Hoffnung durchflutet ihn.

"Bitte, bitte, sag schon!", bettelt er und beginnt vor dem Tor zu hüpfen.

"Warum sollte ich das tun? Gerade erst habe ich jemanden gefunden, der mit mir redet und nicht gleich flüchtet, und nun soll ich ihm helfen, mich wieder zu verlassen? Nein, das wäre unklug."

Lu sackt wieder in dich zusammen. Dann kommt ihm eine Idee.

"Und wenn ich dich mitnehme in meine Welt? Dort bist du nicht mehr gefangen. Und meine Gefährten sind zwar ungewöhnlich, aber sehr klug. Sie würden bestimmt auch mit dir reden wollen.", lockt er.

"Ich kann diesen Hof nicht verlassen. Das weißt du doch. Mich bindet hier ein Fluch der Fee. Nur wenn mir jemand reinen Herzens ein wertvolles Geschenk macht, öffnet sich das Gittertor. Die letzten hundert Jahre ist keine Jungfrau mit einer Kiste voll Gold mehr vorbei gekommen."

Der Sarkasmus des Höllenhunds hängt wie Eiskristall in der Luft.

"Dann werde ich etwas Wertvolles für dich suchen gehen." Lu stemmt entschlossen die Fäuste in die Seite.

"Nicht wertvoll für mich, wertvoll für dich", verbessert ihn der Höllenhund. "Viel Erfolg ... Woher wusste ich nur, dass auch du mich sehr rasch wieder verlassen würdest?". Das Maul des Hundes verzerrt sich zu einem bitteren Lachen.

"Ich komme wieder!", besänftigt ihn Lu.

"Ja, ja .... bestimmt" Hoffnungslos schnappt der Höllenhund zweimal in die Luft und trottet dann vom Tor fort. Der Boden vibriert erneut.

"Ehrlich!", ruft Lu, aber der Höllenhund reagiert nicht.


Lu sitzt noch lange am Tor und überlegt. So schlimm seine eigene Lage ist, mit dem Höllenhund hat er ebenso viel Mitleid. Ein wertvolles Geschenk, ein wertvolles Geschenk. Grübelnd knetet Lu das Amulett in seiner Pfote. Gedankenverloren betrachtet er es und beobachtet seine ehemaligen Gefährten. Wie im Zeitraffer sieht er Big Claw und die anderen.

Gut, dass ich wenigstens das Amulett noch habe", denkt Lu. "Es ist mein ..." Ihm stocken die Worte: "Wertvollster Besitz!", ruft er dann laut. Aber soll er sich wirklich von seiner einzigen Verbindung zu seiner Welt trennen? Zu seiner einzigen Chance auf Rückkehr? Wenn der Höllenhund ihm verspricht, das Amulett nicht zu behalten, sondern sofort für die Rückkehr zu verwenden? Zweifel plagen Lu und er überlegt lange hin und her. Aber was hat er zu verlieren. Alleine kann er mit dem Amulett nichts anfangen. Es ist nichts als ein wehmütiges Andenken an die andere Welt.

"Höllenhund, Höllenhund!", ruft er laut durch das Tor, aber niemand reagiert. Lu rafft all seinen Mut zusammen und drückt sich erneut durch das Gitter.
"Höllenhund ich habe eine Idee, das Amulett!". Immer noch keine Antwort.

Lu schwingt sich in die Lüfte, um den riesigen Innenhof schneller absuchen zu können. Dort hinten ist der Höllenhund ja! Lu landet mit einigen Metern Sicherheitsabstand vor dem Koloss. Aufgeregt erklärt er ihm seine Idee:

" ... Du musst mir nur versprechen, dass du uns beide mit dem Amulett dann zurück in unsere Welt bringst. Du weißt doch wie das geht, oder?"

"Ich weiß, was zu tun ist. Das ist ein guter Plan", bestätigt ihm der Höllenhund. "Gib mir das Amulett."

Lu überfallen noch einmal starke Zweifel, als er den Arm mit dem Amulett ausstreckt. Doch es ist zu spät. Mit einer blitzschnellen Bewegung reißt der Höllenhund das Amulett an sich, wirft es sich über den Kopf und jagt dann freiheitstrunken so schnell er kann auf das Tor zu. Das schwere Eisengitter ist verschwunden.

"Bleib hier! Du hast mir versprochen, mich mit dem Amulett nach Hause zu bringen!", ruft ihm Lu hinterher und startet ebenfalls. Doch der Höllenhund ist viel schneller und entschwindet schon bald seinem Blick.

Zutiefst enttäuscht und schrecklich wütend auf sich und seine Vertrauensseligkeit hält Lu inne. Wütend trommelt er dann mit beiden Pfoten auf den Boden. Wie konnte er nur so dumm sein? Und die Fee hatte ihn noch gewarnt!
Zum wiederholten Male an diesem scheinbar gar kein Ende nehmen wollenden Tag kommen Lu die Tränen. Jetzt ist auch noch sein Amulett verschwunden. Müde und lethargisch legt er sich ins Gras und schläft ein. Alles sinnlos.


Lu erwacht, als ein dunkler Schatten über ihn fällt. Als er zögerlich die Augen öffnet, blickt er in ein winziges, runzeliges Gesicht vor einem schwarzen Himmel. Das Gesicht grinst ihn freundlich an.

"Na, genug geschlafen? Ich dachte schon, du willst gar nicht mehr nach Hause", spottet der Winzling freundlich. "Ich bin Kxlak, der Gnom. El Baratro hat mich befreit und mir dieses Zauberamulett gegeben, mit dem wir wieder aus der Feenwelt fliehen können. Es hätte sofort losgehen können, aber er bestand darauf, dass wir dich mitnehmen müssen. Er hat halt ein weiches Herz." Liebevoll tätschelte der Gnom eine Pfote. Lu bemerkte in seiner Verwirrung erst jetzt, dass keineswegs der Himmel schwarz war, sondern dass er auf die Brust des Höllenhundes starrte.

"Du bist zurück gekommen?", staunt Lu. "Warum bist du einfach weggerannt? Warum hast du nichts gesagt?"

El Baratro tritt ein paar Schritte zurück und blickt verlegen auf einen Punkt neben Lu auf der Wiese.
"Ich war frei! Endlich frei! Da ist es mit mir durchgegangen. Und außerdem musste ich sowieso noch Kxlak holen. Ich kenne zwar den Zauber, aber sprechen kann ihn nur ein Kobold oder eine Fee."

Kxak drängt zur Eile. "Schnell, schnell, bevor die Fee uns in die Quere kommt!", mahnt er.
Dann winkt er Lu und El Baratro heran und bedeutet ihnen, eine Pfote auszustrecken und aufeinander zu legen. Er legt seine Hand obenauf und schlingt die Kette des Amuletts um den Gliedmaßenturm. Ein Zeh eines Höllenhundes, eine Pfote eines Drachens und eine Hand eines Gnoms. Was für ein Anblick.

"Bereit? Jeder von uns wird in seine Welt zurückgelangen. Ich danke euch beiden für eure Mithilfe."

Lu streichelt mit seiner freien Pfote dankbar El Baratro und nickt dann.

"Danke. Und los geht's!"

Kxlak beginnt zu murmeln und viele Sekunden lang passiert nichts. Als Lu gerade beginnt, an der Fähigkeit des Gnoms zu zweifeln, fühlt er wieder den mächtigen Sog des Amuletts. Freudig stürzt er seinen Geist hinein -

und findet sich im Inneren einer halb verfallenen Burg direkt zu Big Claws Füßen wieder. El Baratro und Kxlak sind verschwunden, ebenso das Amulett.
Big Claw starrt ihn verblüfft an. Im gleichen Moment löst sich auch ihr Gegenstück des Amuletts auf.

"Hallo?!", sagt Lu vorsichtig, die Abweisung seiner Gefährten noch gut im Gedächtnis.