Inzwischen standen der Priester und seine kleine Schar am Rande des ausgedehnten Geröllfeldes, das sie oberhalb problemlos hinter sich lassen konnten.
Der Ritter, der die Rolle des Kundschafters übernommen hat, schaut nachdenklich in die brodelnde, stahlblaue Wolkenwand, die sich zwischen den Bergen augebreitet hat und die hohen Gipfel vollständig verdeckt. Hier scheint zwar die allerschönste Herbstsonne, doch durch den Temperaturunterschied wehen immer wieder einzelne, mitunter recht kräftige Windböen. Dazu dringt ein fast ununterbrochenes Grummeln aus dem Unwetter hinüber.
Der Kundschafter schüttelt den Kopf. "Ich dachte, es wäre hier in den Bergen schwierig, die Spur der Truppe zu folgen, aber sie tun alles, dass ihnen selbst ein Blinder folgen könnte..." murmelt er. "Und was sie dazu bewogen hat, in der jetzigen Situation ein gemütliches Picknick zu halten - die Keks- und Kuchenkrümel waren nicht zu übersehen - mag der Henker wissen..."
Der Kundschafter räuspert sich leise. "Zumindest habe ich jetzt eine Vorstellung, wo sie hinwollen." sagt er dann und blickt den Priester an.
"Sagt, was ihr herausgefunden habt!" entgegnet dieser.
"Sie sind dem Bach aufwärts in die Klamm gefolgt. Das ist der kürzeste, aber nicht der einfachste und erst recht nicht der ungefährlichste Weg ins Lange Tal, das ganz im Osten der Brecher beginnt und weit hinein in die Berge führt. Fast am Ende des Tales befindet sich eine alte Tempelanlage auf einem ins Tal ragenden Hügel, unmittelbar über dem Dunklen Auge, einem Bergsee, dessen Wasser selbst in der Sommerhitze eiskalt bleiben. Ich habe keine Ahnung, was sie dort wollen - die Anlage ist seit Ewigkeiten verlassen. Früher gab es einen befestigten, gesichterten Steig durch die Klamm, doch er ist schon längst verfallen und verbrochen. Selbst bei niedrigem Wasserstand reicht das Wasser im hinteren Teil der Klamm von einer Wand zur anderen, und ganz am Ende stürzt das Wasser mehr als 10 Meter von oben herab und hat eine tiefe Mulde in den Fels gewaschen - der Bach ist dort so tief, dass man nicht mehr stehen kann. Hinter dem Wasserfall führt ein Spalt direkt in den Berg hinein. Von dem dahinter liegenden Höhlensystem weiß ich nicht allzuviel, doch es hat mindestens einen Ausgang ins Lange Tal. Es ist also durchaus möglich, die gesamte Drachenkopfkette unterirdisch zu durchqueren, wenn man es durch die Klamm schafft. Bei solch einem Unwetter allerdings..." der Kundschafter nickt in Richtung der bedrohlichen Wolkenwand, "... verwandelt sich der kleine Bach schnell in einen tosenden Wildbach. Wenn es Eure temperamentvolle Freundin und ihre Gefährten nicht durch eines der aufwärtsführenden Seitentäler rechtzeitig geschafft haben, fürchte ich, sind sie verloren."
Der Priester blickt ausdruckslos zu dem Unwetter hinüber, ohne die Worte des Kundschafters zu kommentieren.
"Der eigentliche Weg ins Lange Tal führt von hier ein ganzes Stück oberhalb der Klamm entlang, auf der einen Seite die tiefe Klamm, auf der anderen Seite die steil aufragenden Felsabstürze der Trollzahnkette. Er führt über einige unbedeutende Seitentäler, von denen wenige einen Zugang zur Klamm bieten, und dann in Serpentinen hinauf zum Drachenpass. Der Weg war in früheren Zeiten sehr gut ausgebaut, wird aber seid langem nicht mehr genutzt. Als ich ihn das letzte Mal entlangging, waren Teile von ihm schon verbrochen und man musste sich auf einige Klettertouren einlassen. Zu dieser Jahreszeit kann man in Passnähe schon mit dem ersten Schnee rechnen, was den Weg nicht einfacher macht. Trotzdem würde ich ihn der Klamm vorziehen."
"Könnte es einen Grund geben, warum die Gruppe den gefährlicheren Weg durch die Klamm gewählt hat?" fragt der Priester, noch immer mit ausdruckslosem Gesicht.
"Entweder sie haben es sehr eilig - der Weg unter dem Gebirge hindurch ist viel kürzer - oder sie haben die alte Paßstrasse einfach nicht gefunden. Sie ist stellenweise völlig zugewachsen oder verbrochen, und wenn man nichts von ihr weiß, findet man sie höchstens durch Zufall..."
"Sind diese beiden Wege die einzigsten zum Tempel?"
"Nein, es führen eine Menge Wege dorthin, von denen aber die meisten nicht mehr als felsige, ausgesetzte Steige sind. Einzig aus dem Norden, wo die wirklich hohen Gipfel der Brecher sind, sind mir weder Steige, geschweige denn Wege bekannt, die ins Lange Tal führen. Der Hauptweg - früher wohl eher eine Strasse - beginnt bei den sanften Hängen an der Ostseite der Brecher und führt aufwärts durch das gesamte Lange Tal hinauf. Soweit ich weiß, ist dieser Weg auch noch in einem leidlich guten Zustand, obwohl er praktisch keine Bedeutung mehr hat."
Eine Weile schweigen die Männer. Schließlich fragt der Priester, an den Kundschafter gewandt: "Wie kommt es eigentlich, dass Ihr soviel über die Brecher wisst?"
Der Kundschafter bleibt zuerst stumm, antwortet dann jedoch ausweichend: "Die Brecher sind weit besser erschlossen und haben mehr Bewohner, als immer angenommen wird. Zumindest der mittlere und vor allem der östliche Teil..."
"Das beantwortet nicht unbedingt meine Frage, aber ich will es dabei bewenden lassen. Wie auch immer - wir sollten dem oberen Weg hinauf zum Pass folgen.
"Nicht jetzt!" wehrt der Kundschafter ab, offensichtlich froh darüber, von weiteren Fragen verschont zu werden. "Bei diesem Unwetter ist es lebensgefährlich, diesen Weg zu gehen! Die Felsen sind glitschig, und vermutlich weht dort ein starker Wind. Ein Fehltritt, und man stürzt hundert Meter in die Tiefe... Wir sollten hier besser rasten..."
Zustimmendes Gemurmel kommt von den Rittern. "Eine Rast könnte wirklich nicht schaden..."