Auch der Priester und seine Männer hatten schliesslich doch noch die Ausläufer des Unwetters zu spüren bekommen. Es war der Erfahrung des Kundschafters zu verdanken, dass sie recht schnell einen geeigneten Schutz in einer grasbewachsenen, durch einen Felsüberhang gesicherten Mulde gefunden hatten. Mit traumhafter Sicherheit war der Kundschafter über die steilen, vom Wasser durchnäßten Hänge geschritten und hatte ohne langes Suchen die nicht einsehbare Raststätte gefunden.

"Die Mulde ist zwar praktisch nicht einsehbar und wird schon seit Äonen als Rastplatz genutzt, jedoch würde ich trotzdem darauf verzichten, ein Feuer zu entfachen." meint er nun zu seinen Gefährten. "Merkwürdige Wesen treiben sich hier herum, und obwohl die Chance, hier entdeckt zu werden, gering ist, so würde ich es doch lieber nicht darauf ankommen lassen."
Zustimmendes, wenn auch nicht sehr glückliches Gemurmel kommt von den Rittern. Sie sind alle nass geworden, und von den Bergen, wo das Unwetter noch immer, wenn auch mit verminderter Gewalt tobt, weht ein eiskalter, böiger Wind herab, der selbst in der geschützten Mulde noch zu spüren ist. Zweifellos sehnen sich die von den Strapazen der Reise ausgezehrten Männer nach etwas Wärme, vor allem da sie sich in ungewohntem Gelände bewegen müssen. Lediglich dem Kundschafter scheint die Situation nicht das geringste auszumachen.

"Wie kommt es eigentlich, dass Ihr nicht bei den Waldläufern geblieben seid? Eure Fähigkeiten in der Natur und vor allem hier in den Bergen scheinen... außergewöhnlich zu sein." fragt der Priester.
Der Kundschafter wendet verlegen den Blick ab. Man sieht, dass ihm eine Antwort schwerfällt. "Das ist eine verworrene und unangenehme Geschichte." weicht er vorsichtig aus. "Ich möchte lieber nicht... hör auf, so dämlich zu grinsen!" fährt er den neben ihm sitzenden Ritter an, dem offenbar mehr Einzelheiten über die Geschehnisse, die den ehemaligen Waldläufer in die Reihen der Paladine getrieben hatten, bekannt sind. Auch die anderen Ritter grinsen, während der uneingeweihte Priester angesichts der Heiterkeit der Ritter und des wütenden Gesichtsausdrucks des Kundschafters fragend die Augenbrauen hochzieht. Einer der Ritter beugt sich zu dem heiligen Mann hinüber und flüstert ihm in verschwörerischem Tonfall, aber laut genug, dass es alle in dem kleinen Kreise hören können, zu: "Es steckt ein Weiberrock dahinter..."

Das Grinsen der Ritter wird breiter, nur der Kundschafter lässt niedergeschlagen den Kopf hängen, und auch im Gesicht des Priesters ist lediglich höfliches Interesse, jedoch keine Belustigung zu erkennen.

"Also hat Euch nicht der Ruf in den Dienst der Kirche geführt?"
Das Grinsen der Ritter reicht inzwischen fast von einem Ohr zum anderen. "Er hat ganz sicher einen Ruf verspürt." kichert einer von ihnen. "Einen, dem sich ein Mann unmöglich widersetzen kann. Das Weibsvolk lässt sich von einer glänzenden Rüstung eben mehr beeindrucken als von einem Lederwams... wenn ihr versteht, was ich meine!"
"So war es nicht!" flüstert der Kundschafter. "Es war nicht der Rüstung wegen! Sie war eine Novizin Suleles, und die Waldläufer..." Der Mann schweigt und lässt den Kopf noch tiefer als zuvor hängen.

Der Priester runzelt voller Missfallen die Stirn und betrachtet den ehemligen Waldläufer streng. Doch dann glättet sich sein Gesicht und er seufzt leise. "Die Götter beschreiten mitunter merkwürdige Wege bei der Auswahl ihrer Diener. Sulele, Göttin der Liebe und der Fruchtbarkeit, steht in hohen Ehren. Es ist keine Schande, der Liebe einer Frau wegen in den Dienst des Tempels zu treten - auch wenn viele Priester eine andere Ansicht vertreten. Es ist nicht der Glaube an einen Gott, der zählt, sondern der Weg, den wir beschreiten. Eine Entscheidung der Liebe wegen zu treffen bedeutet, Sulele zu huldigen. Es ist nicht der Wille der Götter, uns an sie glauben zu lassen, denn Glaube nur des Glauben wegens ist ziellos und ohne Nutzen. Es ist der Weg, den wir beschreiten, der die Aufmerksamkeit der Götter weckt. Sie messen uns nicht daran, wie stark unser Glauben und unsere Ehrfurcht vor ihnen ist, sondern Sie messen uns an unseren Taten, egal, in wessen Namen wir sie ausführen. Unentschlossenheit - das ist der wahre Feind des göttlichen Gedanken..."

Das Grinsen der Männer ist verschwunden. Ernst und schweigsam sitzen sie und lauschen den ungewohnten Worten des Priesters hinterher.
Nachdenklich und überrascht von den eigenen Worten hebt der heilige Mann die Hand zu seiner Wange und berührt behutsam den noch immer silbrig schimmernden Abdruck der Frauenhand. Das merkwürdige Mal, dass die Ohrfeige der Streiterin Undars hinterlassen hatte, schmerzte oder brannte nicht, sondern verursachte ein sanftes, angenehmes und belebendes Prickeln. Standen die ungewohnten Gedanken und das Mal miteinander im Zusammenhang?