Derweil schleppen sich der Priester und seine kleine Schar am Rande des körperlichen Zusammenbruchs die Serpentinen zum Tempeltor hinauf. Der Priester hatte in dem nächtlichen Gefecht tief in ein inneres Reservoir der Macht greifen müssen, von dessen Existenz er nichts gewusst hatte, und ein Teil seines Selbst gegeben - doch das war nicht ohne Folgen geblieben. Er ist aschfahl, sein Gesicht eingefallen und die Augen sind tief in die Höhlen gesunken. Graue Strähnen ziehen sich durch das angesengte, vormals dunkle Haar. Die priesterliche Lederkluft weisst an mehreren Stellen Brandspuren auf. Es ist deutlich zu erkennen, das der Mann überhaupt nur von seinem eisernen Willen aufrecht gehalten wird. An seiner Seite setzt der Kundschafter mühsam einen Schritt vor den anderen. Ein leichtes Humpeln deutet auf eine Verletzung am Bein hin.
Hinter dem Priester und dem Kundschafter schleppen sich zwei der anderen Ritter, die einen Dritten von links und rechts stützen. Der Mann in der Mitte ist in einem miserablen Zustand, sein Gesicht totenblass und schweissnass. Immer wieder wird er von einem Zittern übermannt. Seine Lederrüstung ist auf der linken Seite völlig zerrissen. Am augenfälligsten ist jedoch sein linker Arm. Hand und ein Teil des Unterarms sind grau marmoriert und machen den Anschein, als wären sie aus Stein. Zum Ellenbogen hin wird der Grauton immer heller, so dass sich deutlich die dunklen Adern abzeichnen.
Hinter den Rittern, die den Schwerverwundeten stützen, trottet der letzte der Männer her. Sein Kopf ist von einem notdürftigen Verband umwickelt, auf dem sich ein dunkler Blutfleck abzeichnet.
Alle Männer sind blutverschmiert und tragen auch sonst Spuren von Feuer und einem heftigen Kampf an sich. Mühsam und mit zusammengebissenen Zähnen setzen sie schweigend einen Schritt vor den anderen. Nach dem Kampf waren sie die halbe Nacht durch die Dunkelheit marschiert, obwohl sie alle dringend einer Pause bedurften. Doch der Priester hatte die Ansicht vertreten, dass eine Rast für sie den Tod bedeuten würde, und so waren sie erschöpft und ohne weiteren Widerspruch Richtung Tempel aufgebrochen, kaum dass die Wunden notdüftig versorgt gewesen waren.
Der Priester mustert die Tempeltür mit den zerstörten Ornamenten. Seine ohnehin bereits aschfahle Gesichtsfarbe wird noch etwas fahler.
"Oh nein!" stöhnt er, und seine Stimme klingt so entsetzt, dass seinen Rittern ein Schauer über den Rücken läuft. "Es ist der Tempel!"
Der Kundschafter an seiner Seite mustert das gewaltige Tempeltor verwirrt und schluckt dann. "Was wollt Ihr damit sagen?" fragt er.
Niedergeschlagen blickt der Priester zu Boden. "Es gibt zwei solcher Tempel. Einer von ihnen ist in sicherer Obhut bei den Elfen. Der andere galt als verschollen, doch waren sich alle Eingeweihten darüber einig, dass er sicher sei. Beide Tempel waren einst ein Ort des Bösen, doch in blutigen und aufopferungsvollen Kämpfen konnte das Böse zurückgedrängt werden. Die Tempel wurden gereinigt und der Riss im Gewebe durch Siegel verschlossen. Das Böse war verbannt, und die Siegel waren stark und wurden sorgsam gehütet. Wer immer diesen verschollenen Tempel hier bisher bewacht hat - er scheint fort oder vernichtet zu sein. Das Siegel ist schwach, und das Böse erstarkt wieder." Er schweigt kurz und scheint nachzudenken, während seine Männer eschüttert die Worte ihres Anführers in sich aufnehmen.
"Jene finsteren Kreaturen, gegen die wir in der Nacht kämpften, sind möglicherweise ein Überrest aus den längst vergangenen Tagen. Wesen der Hölle, denen damals die Tür vor der Nase zugeschlagen wurde, und die nicht mehr in ihre Welt zurückkehren konnten. Schwach und machtlos verkrochen sie sich in dunklen Spalten, an Orten, die von keinem Lichtstrahl erhellt werden. Zeit spielt für solche Wesen keine Rolle, sie können warten, Jahrtausende, Äonen lang! Jetzt spüren sie, dass das Siegel schwächer wird, und sie kommen erneut hervor. Sie streben hierher, um den Damm niederzureißen, der die Flut der Hölle zurückhält..."
Die Männer schweigen einen Moment. "Davon habe ich noch nie etwas gehört..." sagt schliesslich einer von ihnen zögernd.
Der Priester seufzt.
"Es gibt nur noch wenige, denen die damaligen Geschehnisse bekannt sind, und selbst jene wissen nicht über alle Zusammenhänge Bescheid. Vieles ging verloren oder wurde vergessen, und die Eingeweihten wirken meist im Verborgenen und gehören einem kleinen Kreis aus Auserwählten an."
Die Ritter nicken verstehend. Ein geheimer Zirkel also, und der Priester gehört offenbar dazu. Sie zweifeln keinen Moment daran, dass nur die Fähigsten dem Zirkel angehören, und jetzt verstehen sie auch, wie der Priester den Angriff vergangene Nacht zurückschlagen konnte - mit einer Zurschaustellung von solch geballter Macht, wie sie sie nie in dem heiligen Mann vermutet hatten.
"Die Kreaturen, gegen die wir heute Nacht gekämpft haben, kamen mir nicht gerade... schwach vor." wirft schliesslich einer der Ritter ein.
"Das stimmt." gibt der heilige Mann zu. "Sie waren unerwartet stark. Vermutlich erstarken sie in gleichem Maße, wie das Siegel an Kraft verliert. Bald schon werden sie die Stärke haben, das Siegel von dieser Seite aufzubrechen und das Portal zu öffnen. Möglicherweise jedoch werden aber auch andere Kreaturen vom Ruf des Bösen, von der Verlockung der dunklen Macht angelockt. Kreaturen, die erst nach den Dämonenschlachten in dieser Welt auftauchten."
Unvermittelt strafft sich die Gestalt des Priesters, und ein Anflug seines alten Feuers leuchtet aus seinen Augen.
"Dieser Magier, der Dämonenbeschwörer!" sagt er, und Wut und Zorn flackern in einer Stimme, die wie Donnergrollen klingt. Unwillkürlich weichen die Ritter zurück.
"Jetzt wird mir alles klar! Er ist es! Das hat er also im Schilde geführt! Er suchte diesen Ort, um das Siegel zu brechen und die Dämonen zurück in unsere Welt zu holen! Er hat die Siegelwächter mit seinen Handlangern überwältigt und ist in den Tempel eingedrungen um die Pforte zu öffnen! Dieser Narr! Er glaubt doch nicht etwa, dass er die Finsternis kontrollieren kann? Er wird zu den Ersten gehören, die unter ihrer Macht vergehen! Und mit welchen Lügen mag er eine Streiterin Undars und seine anderen Begleiter betört haben, dass sie Handlanger bei einem solch unheiligen Werk wurden?"
Zorn und Macht flackert aus den Augen des heiligen Mannes und fast scheint es, als sei er in eine Aura aus Licht gehüllt.
"Aber..." wirft einer der Ritter ein, "...woher sollte er das Wissen über diesen Ort haben? Ihr selbst sagtet doch, das es nur wenige Auserwählte geben würde..."
"Es gibt viele Gründe, warum das Beschwören von Dämonen so scharf geahndet wird! Die Dämonen verfügen ohne Zweifel über Wissen der damaligen Ereignisse, und sie sind Meister darin, ein sterbliches Opfer zu verführen und zu ihrem Zwecke zu missbrauchen! Es mögen Mächte der Finsternis gewesen sein, die den Beschwörer mit den benötigten Informationen versorgten, die ihn ohne sein Wissen zu ihrem Handlanger machten, damit er das Siegel zerbrechen würde! Was war ich für ein Narr, dass ich zögerte, als ich ihn hätte töten können! Ich wollte warten, glaubte, die Götter hätten eine große Aufgabe für die Abenteurer! Doch nun sehe ich, dass es mitnichten Götter, sondern Dämonen waren, die sich den Magier auserwählt haben!"
Erneut schweigt der Priester und betrachtet seine betretenen Ritter. Keiner von ihnen ist unverletzt, sie stehen am Rande der Erschöpfung, und sie alle haben in den letzten Tagen weit mehr geleistet, als ein Mensch zu leisten in der Lage sein sollte. Ein Gefühl der Wärme, der Verbundenheit breitet sich im Inneren des Priesters aus. Treu standen sie an seiner Seite, haben allen Gefahren und Widrigkeiten getrotzt. Doch er kann ihnen noch keine Ruhe gönnen. Noch nicht. In ihrem jämmerlichen Zustand würden sie eine Konfrontation mit dem Beschwörer und seinen Helfern kaum überleben. Doch sie mussten es versuchen, sie mussten versuchen, den Beschwörer davon abzuhalten, das Siegel zu zerbrechen - und wenn es sie den Tod kostete. Denn wenn es ihm gelingen würde, die Pforte zu öffnen, würde sich die Finsternis erneut über der Welt ausbreiten.
"Wir müssen noch diesen letzten Gang tätigen." sagt er leise, fast flüsternd zu den ahnungsvollen Rittern, und jetzt ist seine Stimme sanft. "Wir müssen ihn aufhalten und der Sache ein Ende bereiten. Der Beschwörer muss getötet werden!"
Er sieht den Zweifel in den Augen der Ritter, ihre Unsicherheit. Sie sind erfahrene Kämpfer, nicht frei von Furcht, doch in der Lage, diese zu überwinden - und sie wissen, wie es um ihre Kräfte steht.
"Wir haben gute Chancen, dass der Beschwörer und seine Begleiter im Kampf gegen die Siegelwächter geschwächt wurden." sagt daher der Priester aufmunternd. "Sie werden trotzdem noch stark sein. Doch vielleicht haben wir auch Verbündete unter ihnen. Eine Auserwählte Undars zumindest wird die Wahrheit erkennen, wenn man sie ihr sagt, und sich gegen das Böse wenden - selbst, wenn sie vorher durch Lügen verblendet wurde, die sie selbst für die Wahrheit hielt!"
"Er wird sie getötet haben, als er sie nicht mehr brauchte..." murmelt einer der Ritter tonlos. "Seine Begleiter haben ihm den Weg hierher geebnet. Jetzt, wo sie für ihn nicht mehr von Nutzen sind, werden ihre Glieder vermutlich schon in den Gängen verfaulen..."
"Ich weiß, dass es viel ist, was ich von euch verlange! Und ihr wisst, dass vermutlich niemand von uns diesen Ort lebendig verlassen wird. Doch außer uns ist niemand da, der das Unheil aufhalten kann - selbst, wenn unsere Chancen schlecht stehen. Also lasst uns das Licht der Götter an diesen Ort bringen! Mit ihrem Beistand werden wir den Durchbruch der Finsternis verhindern!"
Der Priester hebt die Hand, und er und seine Ritter werden in ein mildes, silbernes Licht getaucht, als er den Segen spricht. Dann taumelt er kurz zurück, und spricht mit gepresster Stimme: "Lasst uns das Tor öffnen!"
Die Männer stemmen sich gegen das riesige Portal, doch es bewegt sich nur millimeterweit.
"Es ist zu schwer!" keucht der Kundschafter, "Wir können es nicht öffnen!"