Bodasen, noch immer grübelnd, merkt erst gar nicht, dass sich die Wände um ihn herum zu bewegen scheinen. Ein undurchsichtiger Grauschleier legt sich für einen kurzen Moment vor seine Augen. Als er ebenso schnell wieder vergeht, wie er aufgetaucht war, findet sich der Magier allein an einem anderen Ort wieder. Unter einem blutroten Himmel breitet sich ein völlig zerklüftetes Gelände aus, felsig und sandig, durchsetzt mit zahlreichen dunklen Spalten und übersäät mit Felstrümmern aller Größen. Es gibt nicht die Spur einer Vegetation, keinen noch so kümmerlichen Halm, ja nicht einmal die Spur einer Flechte ist auszumachen. Der Ort kann trostloser nicht sein. Es ist ein Ort, kalt und ohne jedes Leben, völlig leergebrannt, ein Ort, wo jede Hoffnung begraben wird.
Vielleicht ist die entmutigende Einöde der Grund dafür, dass sich Bodasen, inmitten des unübersichtlichen Geländes stehend, an diesem Ort so lebendig wie schon seid Jahren nicht mehr fühlt. Seine Gedanken sind klar, und mit elementarer Gewalt wird er sich seiner selbst bewusst. Das Gefühl zu existieren, lebendig zu sein und nicht nur einen Instinkt, sondern ein individuelles Bewusstsein zu besitzen durchströmt seinen Körper, verursacht ein angenehmes Prickeln und wärmt den eigenen Geist an diesem Ort der Kälte und Feindschaft. Er horcht in sich hinein, forscht in seinem Inneren nach der Stimme, die ihn in der letzten, aufregenden Zeit begleitet hat, doch sie schweigt. Entweder weiß sie nichts zu sagen, oder sie hat ihn verlassen.
Der Magier will sich den ungewohnten, angenehmen Empfindungen hingeben, seine Individualität geniessen, doch eine Bewegung vor sich erregt seine Aufmerksamkeit. Eine halbtransparente Gestalt schält sich aus dem Sand und den Steinen hervor, dann noch eine und noch eine, bis es immer mehr werden und ihre Zahl nicht mehr überschaubar ist. Bodasen hat solche Gestalten noch nie gesehen, doch er hat bereits auf der Akademie von ihnen gehört. Phantome, die aus der Magie selbst geboren werden, sogenannte „entartete Magie“ – Wesen, die ihre Umgebung nur anhand der magischen Strömung erkennen können. Der Theorie nach nimmt ein solches Wesen jede Magie in sich auf und vereinnahmt sie vollends. Jede Form von Zaubern stärkt sie nur, und gegen physische Attacken sind sie immun, da sie selbst keinerlei Körperlichkeit besitzen – ebensogut könnte man mit einem Schwert in der Luft herumfuchteln und sich der Löcher freuen, die man ihr schlägt. Ein Magier ist aufgrund seiner magischen Aura ein Leuchtturm für sie. Bodasen kann sich aber auch an Vorlesungen erinnern, in denen schlüssig bewiesen wurde, dass ein solches Wesen nicht existieren konnte! Doch hier, an diesem merkwürdigen Ort...
Bodasen spürt die augenlosen Sinne der unzähligen Gestalten. Sie haben ihn entdeckt! Er spürt, wie sie sich auf ihn fixieren, wie ihre gierigen Blicke an seiner Magie kleben. Er kann förmlich *fühlen*, wie sie sich lustvoll die nichtvorhandenen Lippen lecken angesichts seiner magischen Macht. Seinen Körper mochte er in dem unübersichtlichen, von zahlreichen Versteckmöglichkeiten duchsetzten Gelände vor gewöhnlichen Augen verbergen können. Doch diese Wesen sahen nicht mit gewöhnlichen Augen, und sein Körper war für sie ohne Bedeutung. Sie würden ihn hier überall aufspüren, denn sie sahen seine Aura durch jeden Felsen hindurch! Vor ihnen würde es kein Versteck geben - und wenn sie seine Magie erreichen würden, würde auch sein Körper aufhören zu existieren!
Ein kollektives Seufzen geht durch die Reihen der Wesen, als sie sich langsam in Bewegung setzen, mit ihm als Ziel.

Mit einem Anflug von Panik dreht sich Bodasen herum, um sein Heil in der Flucht zu suchen – seine einzige Chance. Wenige Schritte von ihm entfernt ragt eine Felswand in den düsteren Himmel empor. Am Fuße der Felswand befindet sich eine kleine Grotte, nicht mehr als eine kleine Vertiefung im Fels, und in dieser Grotte steht ein höchst merkwürdig anmutendes Gefäß auf einem marmornen Podest. Das Gefäß, kaum größer als ein Nachttopf, hat eigentlich keine richtige Form – es gibt Bereiche, wo es eher bauchig, aber auch solche, wo es länglich und schlank wirkt. Auffällig sind die zahlreichen kleinen Löcher, die offenbar bewusst in die Gefäßwände hineingearbeitet wurden. Sie alle entsprechen geometrischen Figuren: Kreise, Dreiecke, Vierecke, Vielecke. Nur an der Oberseite, die leicht gerundet ist, fehlen diese Löcher. Dafür leuchten Buchstaben auf dem glatten Material. Bodasen spürt, dass dieses Gefäß mit seiner Rettung vor den Phantomen aus entarteter Magie verbunden ist, also tritt er rasch an das Podest heran und versucht, die Schriftzeichen zu entziffern. Sie sind in einer alten Magiersprache geschrieben:

Aufbewahrt
hinter undurchdringlichen Wänden
verborgen vor der Jäger Sicht,
von dannen sie ziehen!