Bigclaw zögert, die ungewohnte Klinge des Ritters hoch erhoben und über dem Leib des Verwundeten stehend. Mit spürbarem Widerwillen blickt sie auf den fremden Stahl in ihrer Hand. Sie glaubt, das Richtige zu tun, und doch fühlt sie sich beschmutzt und ihr Herz ist schwer und voller Zweifel. Sie ist eine Heilerin, und trotzdem soll sie den Tod geben. Sie weiß, dass Gnade und Heilung untrennbar miteinander verbunden sind, dass es ohne Gnade keine Heilung geben kann. Doch war das wirklich der richtige Weg? Niedergeschlagen blickt die Elfe auf den Ritter hinab, dessen Geist mehr und mehr aus dem Körper gerissen wird und nichts als unvorstellbaren Schmerz und Qual zu enthalten scheint.

Während die Elfin mit ihrer steigenden inneren Unruhe ringt, verändert sich unter ihrem Blick plötzlich das charakterlose, unkenntliche Gesicht des Verwundeten. Es wird schlanker, nimmt weiche Züge an, und schliesslich blickt Bigclaw in das wunderschöne Antlitz einer Elfenfrau.

Ein gequälter Aufschrei entringt sich Bigclaws Brust. Sie kennt dieses Gesicht! Wie könnte sie es jemals vergessen! Doch das kann unmöglich wahr sein! Dies hier kann kein Teil der Wirklichkeit sein! Ob es einer jener "Träume" ist, von denen die Menschen immer wieder berichten?
Grauen steigt in Bigclaw auf. Wie sollte sie das Schwert durch den Leib rammen, der nun das Gesicht ihrer Mutter trägt?
Doch noch bevor ihr Entsetzen die Oberhand gewinnen kann, regt sich der gepeinigte Körper vor ihr, und das wunderschöne Gesicht ihrer Mutter lächelt.
"Es ist der wahre Heiler in dir, der deinen Arm zurückhält, Kind!" flüstert das Gesicht ihrer Mutter, und der Klang der Stimme, der Bigclaw so oft voller Freude lauschte, berührt ihr Gemüt mit solcher Sanftheit, dass sich umgehend jedes Gefühl der Angst und des Entsetzens in ihr verflüchtigt und sie von einer Welle der Wärme und Hoffnung durchspült wird, wie sie es schon lange nicht mehr empfunden hatte.

"Der Körper ist nur ein Teil unseres Selbst! Richte den Blick nicht auf das Fleisch alleine, sondern suche das, was das Fleisch lebendig macht! Wirkliche Heilung beginnt dort, nicht am Körper! Das wunderbare Geheimnis des Lebens bleibt unergründet, doch ein Heiler vermag die Lebendigkeit selbst zu sehen, jenen Funken, der allem Lebenden innewohnt, und den die Menschen die Seele nennen! Der Atem des Lebens ist besonders stark in uns Heilern, denn wir sind dazu bestimmt, ihn mit anderen, Kranken und Verletzten zu teilen! Fühle die lebendige Kraft der Natur in dir, und übertrage sie jenen, in denen das Feuer zu erlöschen droht, denn das ist es, was Heilung bedeutet!"

Als die Stimme der Elfenfrau verklingt, verliert das Gesicht wieder an Konturen und wird erneut gesichtslos.
Bigclaw, das Schwert noch immer erhoben, starrt auf den Körper vor ihr hinab, der soeben noch das Gesicht ihrer Mutter trug. Was war das eben? Eine Illusion, eine Vision, oder hatte tatsächlich ihre Mutter zu ihr gesprochen? Was meinte sie damit, dass sie den Blick auf das richten sollte, was das Fleisch lebendig machte?

Als Bigclaw weiterhin den Schwerverwundeten vor ihr fixiert und mit ihren Blicken das geschundene Fleisch zu durchdringen sucht, verliert dieser vor ihren Augen plötzlich an Wesentlichkeit. Ein bläuliches Leuchten durchdringt die Gestalt des Verwundeten, schwach und matt und eher ein Glimmen. Es flackert unstetig, und in diesem Flackern liegt soviel Leid, dass Bigclaw beinahe die Pein des Verletzten körperlich zu verspüren meint und nach Atem schnappt. Unwillkürlich versucht sie ihren Blick auf das Glimmen zu fokussieren. Inmitten des Glimmens, jetzt für sie selbst durch das Flackern deutlich zu erkennen, bemerkt sie eine Stelle, die dunkler als der Rest ist, obwohl sich das Licht um diese Stelle zu konzentrieren scheint. Das muss die Wunde sein! Sie wirkt wie ein Schmutzfleck inmitten des Glühens, und im Zentrum dieses Fleckes vermeint die Elfin ein Loch zu erkennen, einen Ort völliger Finsternis, einen Bereich, in dem das Licht förmlich zu versickern scheint.