Lu hat die Wanderung mit seinen Gefährten sehr genossen. Konnte das Leben nicht immer so einfach sein? Kein Unterricht, kein ständiger Spott, keine gemeinen Streiche ... stattdessen gemeinsames Jagen, der frische Wind um die Nase in der Einsamkeit der Lüfte und eine immer vertrauter werdende Gemeinschaft mit den Ungeflügelten.
Sie hatten gemeinsam eine sehr effektive Jagdtechnik entwickelt, bei der er aus der Luft einen weiten Bereich absuchte und dann ein geeignetes Opfer vor die Bögen der Gefährten trieb. Manchmal machte er sich fast selbst Sorgen darüber, dass selbst viel größere Tiere in Angst vor ihm flohen. Aber es half dabei, den Magen zu füllen.
Er musste unbedingt daran denken, seinem Rudel zu erklären, dass nicht alle Menschen eierfressende, kulturlose, diebische Ungeheuer waren!
Auf die Stadt ist Lu sehr neugierig. "Stadt", das sagt ihm so gar nichts. Die Gefährten hatten ihm erläutert, dass es sich dabei um eine Ansammlung von Wohnhöhlen der Menschen handele. Er kann sich allerdings keinen sinnvollen Grund vorstellen, die Wohnhöhlen so dicht beieinander zu suchen, dass man eine Mauer rundherum bauen kann ... oder es musste eine riesengroße Mauer sein. Wie fanden sie denn zwischen den Wohnhöhlen genügend jagbares Wild? Lu will sich überraschen lassen.
Erddrachen wohnen in unterirdischen Höhlen im Wald, Luftdrachen auf den Gipfeln von Bergen, Wasserdrachen in Seen und Feuerdrachen natürlich in heißen Erdspalten nahe Vulkanen. Wie mochten die Wohnhöhlen der Menschen wohl aussehen? Sie sind so klein, weich und zerbrechlich? Ob sie auch weiche Häuser haben? Oder weiche Häuser mit Rüstungen? Der kleine Drache muss beim Anblick der Wohnhöhlen, die seine Phantasie im vorschlägt, schmunzeln.
Als sie Rechem endlich vor sich sehen, ist Lu gleichermaßen enttäuscht und entsetzt. So ein winziges Eckchen! Allein die Höhle seiner Familie war mindestens dreimal so groß! Allerdings wuseln überall Ungeflügelte herum ... und sie sehen überhaupt nicht freundlich gesinnt aus. Manchmal hat er das Gefühl, ihren Hass geradezu zu spüren. Was hatte er ihnen denn getan? Bei jeder Begegnung mit den Menschen dieser Landschaft wird Lu ein klein wenig durchsichtiger. So hatte er sich das von seinen Gefährten in bunten Farben ausgemalte Rechem nicht vorgestellt.
Und dann will Bodasen ihn auch noch an die Magierakademie verschenken?!? Den Nestlingen in seinem Rudel wurden doch schon die Schauergeschichten darüber erzählt, was einem Drachen bevorstand, der in die Hände von experimentierfreudigen Magiern fiel. Nein! Dazu wird er auf gar keinen Fall sein Einverständnis geben! Er wirft dem Magier Bodasen einen misstrauischen Blick zu. Ob auch dieser mit ihm experimentieren will? Außerdem wäre ein Geschenk ein Geschenk; das dürfte man nicht einfach wieder mitnehmen.
"Warum hassen mich die Ungeflügelten hier nur alle? Ich habe ihnen doch gar nichts getan. Ich bin doch noch ein Welpe! Einer hat mir sogar einen Stein hinterher geworfen!", quengelt der kleine Drache, jedoch mit einem dankbaren Seitenblick auf Przyjaciel Stone. Dieser hatte den Steinwurf nicht unbeantwortet gelassen.
"Wie gut ist denn die Mauer in der Nacht bewacht? Könnte ich nicht einfach nach Einbruch der Dunkelheit in die Stadt fliegen und in euer ... ja wohin eigentlich kommen?", überlegt er laut. "Oder ich könnte eine lange Kutte mit einer Kapuze tragen oder ich könnte versuchen, mich zu..."
Lu verstummt. Eigentlich will er überhaupt nicht mehr in diese doofe Stadt, wo ihn alle zu hassen scheinen. Seine freudige Neugierde ist wie weggeblasen.