"Ihr seid nicht mein Vater, und ich habe Euch nie um Hilfe oder Euren Rat gebeten! Für wen haltet Ihr Euch, dass Ihr glaubt, mir Vorschriften machen zu dürfen?"
Das zorngerötete Gesicht der heiligen Streiterin Undars schwebt vor dem Priester, umgeben von einem silbernen Schein. Schallend trifft die Hand der ungestümen Frau die Wange des Priesters, und eine Welle aus Hitze strömt durch das Gesicht des Mannes.
"...nicht mein Vater!" Erneut trifft ihn ein Schlag und lässt silbernes Licht in seinem Kopf explodieren.
"...nie um Hilfe oder Euren Rat gebeten... Vorschiften... hört er die aufgebrachte Stimme der Kriegerin nachhallend, immer und immer wieder, und ein ums andere Mal trifft ihn ihre Hand ins Gesicht. Er wendet den Kopf, doch das Gesicht der Auserwählten Undars scheint überall zugleich zu sein. Ihre Augen funkeln ihn an, und wo er sich auch hinwendet, er kann ihrem Schlag mit der flachen Hand nicht entgehen. Das silberne Licht, das er in seinem Geist jedes Mal entstehen lässt, peinigt mit seiner Reinheit und seinem Glanz seinen Verstand. Es frißt sich in ihn hinein, nach seinem Bewusstsein suchend, und es gibt nichts, was er dem gleißenden Licht entgegenzusetzen hätte.
Der Priester schreit gellend und fährt in die Höhe. Er ist von undurchdringlicher Dunkelheit umgeben. Das Echo seines eigenen Schreis hallt noch eine Weile in dem unterirdischen Gewölbe nach. Nur ein Traum!
Sacht befühlt der Priester die Wange, die einst die Hand der Undarstreiterin so ungstüm berührt hatte. Er erkennt den schwachen silbernen Schein, der von seinen Fingern reflektiert wird. Das Mal, das ihn seitdem ziert, glüht wieder in silbernem Licht!
Mit einer raschen Bewegung beschwört der Priester die magische Lichtkugel, die kurz nach seinem Einschlafen erloschen war. Sie erhellt den Raum nun wieder mit ihrem silbernen Mondlicht und offenbart die neben ihm in tiefem Schlaf liegenden Ritter. Verwundert betrachtet er einen Moment die friedlichen Gesichter seiner Männer. Er konnte sich genau an seinen eigenen, gellenden Schrei erinnern, mit dem er aus dem Schlaf emporgeschreckt war. Wieso war keiner der Männer durch diesen Schrei munter geworden?
Das Erstaunen des Priesters nimmt noch zu, als er die am Brunnenrand zusammengesunkene Gestalt des hünenhaften Fremden erkennt. Es war schon verwunderlich genug, dass jemand wie er überhaupt schlief, doch dass es sich auch noch um einen so tiefen Schlaf handeln würde, dass er nichteinmal durch einen lauten Schrei gestört wurde, war schon fast beängstigend.
Langsam erhebt sich der Priester. Er fühlt sich ausgedörrt und ein quälender Hungerschmerz regt sich in ihm, als hätte er seit Tagen nichts gegessen. Wie lange hatte er hier in dieser Dunkelheit geschlafen? Schleppend geht er die wenigen Schritte zum Brunnen. Sein Fuss bleibt an einem Arm eines der Ritter hängen, und fast wäre er gestürzt. Weder der Mann, über dessen Arm er stolpert, noch jener, dem er bei seinem Versuch, auf den Beinen zu bleiben versehentlich auf die Finger tritt, rührt sich. Deutlich sind ihre tiefen und gleichmäßigen Atemzüge zu erkennen.
Als der Priester den Brunnen erreicht, probiert er vorsichtig von dem Wasser. Das Wasser ist klar und kühl und prickelt angenehm auf der Zunge. Augenblicklich fühlt er sich erfrischt und gierig stillt er den schlimmsten Durst.
Der heilige Mann klatscht laut in die Hände, doch als das Geräusch keinerlei Reaktion weder bei dem Fremden noch bei seinen Männern bewirkt, geht er von einem zum anderen und rüttelt sie kräftig. Doch es will ihm nicht gelingen, auch nur einen von ihnen aus seinem tiefen Schlaf zu reißen. Neuerlich beunruhigt wandert sein Blick in dem silbern ausgeleuchteten Gewölbe umher, und erst jetzt erkennt er die Reste von Knochen und Gebeinen, die einige Schritt entfernt an der Wand liegen. Nachdenklich betrachtet er den Brunnen, und ganz langsam reift in ihm die Erkenntnis, dass der Gebrauch des Wassers mit seiner regenerierenden Wirkung mit einem hohen Preis erkauft wird. Er schliesst die Augen und konzentriert sich, um Gewissheit zu erlangen. Tatsächlich kann er eine kaum wahrnehmbare magische Komponente in der Luft um sich ausmachen, kaum mehr als ein feiner Nebel. Es ist nichts Bedrohliches, eher ungerichtete Magie, möglicherweise aus dem Wasser durch dessen Verdunstung freigesetzt. Doch es schläferte Körper und Geist ein und liess sie in einen tiefen, traumlosen, nicht endend wollenden Schlaf hinübergleiten, der direkt bis in die sanfte Umarmung des Todes führte. Wer hier vom Schlaf übermannt wurde, für den wurde dieses Gewölbe zur eigenen Gruft.
Der Priester erschauert, als ihm klar wird, dass ihn nur das unerklärliche Auftauchen der Kriegerin und ihre schon längst zurückliegende Ohrfeige in seinem eingeschlafenen Bewusstsein vor dem buchstäblichen Hinüberdämmern in den endgültigen Schlaf bewahrt haben mochte. Ohne die silbernen Explosionen, die der Schlag in seinem traumlosen Zustand in ihm ausgelöst hatten, wäre er nicht erwacht, und sein Körper und die seiner Mitreisenden wären hier schliesslich zu Staub zerfallen.
Erneut berührt er das silbern leuchtende Mal auf seiner Wange. Wie sollte er nur die anderen wachbekommen? Ein weiterer Versuch, sie durch Rütteln aus ihrem Schlaf zu reißen, schlägt fehl. Schliesslich träufelt der Mann einem von ihnen einige Tropfen des Brunnenwassers auf die spröden, vertrockneten Lippen, kaum darauf hoffend, dass das Wassers den Schlaf vertreiben würde. Doch wenig später flattern die Lider des Ritters, Zuckungen in Armen und Beinen kündigen das Ende des Schlafes an, und schliesslich schlägt er die Augen auf und richtet sich erstaunt auf, als er das erleichterte Gesicht des Priesters über sich sieht.
"Undar sei Dank!" seufzt der heilige Mann und benetzt unter den verwunderten Blicken des Erwachten auch die Lippen aller anderen mit dem wundersamen Nass, um sie aus ihrem Schlaf zu erwecken.
Als er auf das Aufwachen des Fremden und seiner restlichen Männer wartet, wandern seine Gedanken unwillkürlich zu der Streiterin Undras, deren einstiger Ohrfeige er seine Errettung zu verdanken hat. Ob sie noch am Leben war? Er kann nicht wissen, dass etwa in diesem Augenblick die Augen der Kriegerin unter einem klaren, sonnendurchfluteten Spätherbsthimmel auf die Türme und Dächer der Stadt Rechem gerichtet sind und sie eine schwere Entscheidung trifft.