Lu ist vor Angst zusammengesunken und sitzt immer noch wie erstarrt zitternd auf dem Boden. Mit weit aufgerissenen Augen blickt er dem näherkommenden Lichtschein entgegen. Er will wegrennen, die Leiter hinauf flüchten, doch diese unheilsverkündende Stimme, die große, dunkle Silhouette, die sich stetig nähert und der unglaubliche Gestank, den diese vor sich her schiebt, lassen seine Muskeln wie aufgeweichte Kekse erscheinen.
"Was ist denn nun schon wieder, Edward? Haben dir die Läuse deinen schwarzen Bart zu heftig gekrault?", ertönt plötzlich eine weitere Stimme in einiger Entfernung. "Ich sitze schon die ganze Nacht hier Wache mit meiner Laterne und warte darauf, dass Klaus endlich kommt. Aber das stört den Beker ja nicht, dass ich mich hier zu Tode langweile ..."
"Jetz lass'n Beker mal in Ruhe, ey. Der hat uns noch nie enttäuscht und wird auch heute wieder zuverlässig »Kräuter« gegen »Rum« tauschen", brüllt die erste Stimme zurück in den Gang und lässt den Worten ein unmelodisches Gröhlen folgen, das wohl Gelächter darstellen soll.
"Ob Godeke ihn wohl noch begleitet?"
Die Silhoutte entfernt sich wieder einige Schritte.
Als Lu gerade aufatmen will, kehrt der Lichtschein jedoch zurück.
"Aber ich lass mich nich verarschen, ich habb doch wat gehört", brüllt die Stimme erneut. Lu überlegt, ob diese Person - ein Mensch wie er inzwischen erkannt hat - überhaupt normal reden kann.
An der Einmündung des Ganges in die Höhle tritt der Pirat knirschend in die Glasscherben der zerschellten Flasche. Ein derber Fluch erklingt, zumindest entnimmt Lu das dem Tonfall, und der Ankömmling beginnt wütend gegen die Wand zu trommeln. Ein langer, verwegen zerzauster Bart umweht sein zorngerötetes Gesicht und seine Augen blitzen im flackernden Fackellicht hasserfüllt.
"WER WAR DAS!!!! ZEIG DICH, DU ...DU!"
Gemessen an dieser Lautstärke war alles bisher nur ein Flüstern, registriert Lu abwesend. Gleich würde er entdeckt und von dem dunklen Scheusal in der Luft zerrissen werden.
Suchend blickt sich der Pirat in der Höhle um, scheint jedoch nichts entdecken zu können. Trappelnde Schritte hinter ihm zeigen, dass der Aufruhr nicht unbemerkt geblieben ist. Zwei weitere Gestalten eilen in den Raum und befestigen mitgebrachte Fackeln in dafür vorgesehenen Wandhalterungen. Erleuchtet wirkt die Höhle viel kleiner als zuvor.
"Hier issst doch überhaupt nichtsss, Edward", bemerkt einer von ihnen, ein langer Schlaks mit blonden, strähnigen Haaren vorsichtig, nachdem er den Raum rasch überblickt und sogar im Regal nachgesehen hat.
Edward wirft ihm seinen Dolch direkt vor die Füße.
"Nix!? NIX!? Nix hat also die Flasche aus'm Regal geholt, durch'n Raum getragen und dann die Treppe runta geworfen? Bisse eigentlich total hohl inne Nuss, William? Kein Kind würde das glauben können!"
William und der zweite Neuankömmling werfen sich einen langen, vielsagenden Blick zu. Jetzt bloß den Boss nicht weiter reizen ...
"Wir werden uns mal umsehen, Käptn", antwortet der Rotschopf besänftigend. "Vielleicht war es ja wieder dieses Katzenmistvieh, das hier herum streunt. Wir werden sie fangen, langsam rupfen und dann lebendig grillen. Ok, Käptn?"
Die Vorfreude auf diese Grausamkeiten lässt ein schwaches Lächeln über das Gesicht des Anführers huschen.
"Gut", gurgelt er hervor. "Und wenn sowas nochma passiert oder die Katze bei Sonnenaufgang imma noch hier rumrennt, werd ich mir einen Ersatz suchen", antwortet er mit einem falschen Schnurren und blickt seine Begleiter einen nach dem anderen bedeutungsvoll an. "Und nun ..."
"Sie kommen! Sie kommen!" unterbricht ihn in diesem Moment der Ausguck. Jetzt kann alles andere warten und die Männer rennen geschlossen aus der Höhle hinaus, um beim Anlegen und Löschen des Bootes zu helfen. Was mag die Prise wohl heute hergeben? Nur William bleibt noch einen kurzen Moment und zieht die Leiter aus dem schmalen Schacht, der an die Oberfläche zurück führt.
Mit einem selbstgefälligen Schniefen flüstert er: "Hier kommt keina raus, wenn ich nich will!", bevor auch er die kleine Höhle verlässt.
Lu zittert immer noch vor Angst. Zum allerersten mal in seinem Leben ist er heilfroh ein Glasdrache zu sein. Gut, dass niemand auf ihn getreten ist. Aber wie nun weiter?