Tage zuvor, in Mogador:
Sheere schreckt aus ihrer Arbeit auf. Sie blickt sich suchend um, kann aber nichts Außergewöhnliches entdecken. In ihr Innerstes horchend, wird ihr klar, dass es ein Ereignis gegeben hatte, dessen Auswirkungen bis zum Königreich Mogador reichten. Und ihr ist bewusst, dass ihre Tochter, Big Claw, einen Anteil daran hatte. Sie eilt zum Tempel. Dort wartet schon die Hohepriesterin Raigan.
„Ich wusste, dass ihr kommen würdet. Auch wir haben die Erschütterungen sehr stark gespürt. Aber auch, dass es gute Erschütterungen waren. Wie es aussieht, ist unser Schwestertempel zur Ruhe gekommen. Das Böse wurde verbannt und die Verletzungen im Gewebe der Welt geheilt. Eure Tochter war daran beteiligt. Ich konnte es spüren. Sie ist in ihren Fähigkeiten sehr viel stärker geworden. Habt ihr sie eigentlich genügend auf ihre Aufgabe vorbereitet?“
Sheere senkt beschämt den Kopf.
„Ich muss gestehen, das habe ich eigentlich nicht. Ich hoffte immer, dass Big nicht diese Aufgabe erfüllen muss. Auch wollte ich noch warten bis sie älter geworden ist, aber dann ging alles zu rasch. Das Böse hat sich zu schnell zurückgemeldet. Ich wünschte, ich wäre nicht so sorglos gewesen. Oh, ich hoffe, dass ihre innere Kraft ausreicht.“
Raigan sieht Sheere ernst an.
„Darüber macht euch keine Sorgen, ihre Kraft wird stärker sein als eure es jemals war und das will etwas heißen. Was mir Gedanken bereitet ist, wie sie mit den zunehmenden Fähigkeiten umzugehen weiß. Sie kennt sie nicht. Das ist euer Versäumnis. Ihr hättet ihr sagen müssen, wer ihre Mutter wirklich ist. Jetzt ist es zu spät, Big Claw wird dies alles durch schmerzliche Erfahrungen lernen müssen. Aber sie ist stark. Sie wird es schaffen.“
Ein Anflug von Wehmut überschattet Raigans Gesichtszüge. „Ich frage mich nur, was aus meiner Ordensschwester Fenia geworden ist; ich spüre sie nicht mehr. Durch das intensive Studium der alten Schriften hatte ich, warum auch immer, eine spürbare Verbindung zu ihr. Obwohl sie schon eine sehr, sehr lange Zeit in dem Tempel weilte. Sie ging dorthin, lange bevor ich geboren wurde. Wahrscheinlich ist, dass sie nicht mehr am Leben ist – das erfüllt mich mit tiefer Trauer, aber ihre Aufgabe ist wohl erfüllt.“
Sie rafft sich wieder auf. „Sheere, nun geht und betet für eure Tochter. Sie kann es brauchen.“
Raigan dreht sich um, ohne auf eine Antwort von Sheere zu warten.
Die Elfe wendet sich wortlos ab und geht durch die Stadt zurück. Sie betrachtet gedankenverloren die Häuser und Strassen. Alle Strassen sind gepflastert. Jedes Haus hat prächtige Verzierungen. Die unterschiedlichsten Ornamente sind zu sehen. Jeder Hausbesitzer hat seine Phantasie walten lassen. Auch das Innere der Häuser ist prächtig. Sheere weiss das genau, da sie die Mitglieder ihres Volkes besucht, wann immer es geht, um sich mit ihnen zu unterhalten. Sie ist eine Königin, die sich um ihr Volk sorgt und kümmert. Vielleicht mehr, als man es von ihrer Stellung erwartet. Es ist eine reiche Stadt. Ja, hier herrscht Wohlstand, wie im ganzen Königreich Mogador. Turock ist ein guter und weiser König. Er versteht es die Geschicke zum Guten zu leiten.
Sheere´s Gedanken gehen weit zurück. Zurück zu der Zeit ihrer Kindheit und Ausbildung. Ihre Eltern hatten ihre Begabung früh erkannt, was bei ihrer Abstammung auch kein Wunder war. Ihr wurde alles beigebracht, was große Heiler und Elfenmagier wissen mussten, um das Böse zu bekämpfen, wenn es wiederkommen sollte. Und es war bestimmt, dass auch ihre Kinder dieses Wissen in sich tragen würden. Und sie hatte es weiterzugeben.
Sie denkt an die Zeit als sie schwanger war und Turock fast verrückt gespielt hat, bei dem Gedanken einen Sohn zu bekommen. Wie groß war seine Enttäuschung als eine Tochter zur Welt gekommen war. Ihr war beim Anblick ihrer neugeborenen Tochter sofort bewusst, dass diese einmal mehr Fähigkeiten besitzen würde als sie selbst. Oh ja, Sheere wollte ihrer Tochter alles beibringen und sie zu den Lehrern schicken, um das Wissen noch zu vergrößern und zu erweitern. Nur fand sie nie den richtigen Zeitpunkt dafür. Immer schien ihr Big Claw noch zu jung zu sein. Turock selbst hatte seine Enttäuschung nach und nach überwunden. Denn Big Claw machte es ihm leicht. Sie lernte mit Feuereifer all die Dinge, die der Vater auch einem Sohn beigebracht hätte und sie war sehr gut. Big Claw bereitete ihrem Vater nur Freude.
Sheere schreckt in ihren Gedanken auf. Was hatte sie nur getan? Sie hatte ihre einzige Tochter in dem Glauben gelassen, dass sie die Tochter eines Königs war und ihre Mutter eine normale Elfe, zwar von hohem Stand, aber eben nur `normal` war. Sheere hätte Big Claw sagen müssen, dass sie von den hohen Priesterinnen abstammt und sehr viel mehr Fähigkeiten als `normale` Elfen besaß. Sie hätte ihr sagen müssen, dass sie über Kräfte verfügt, die selbst unter den Elfen selten waren und Big Claw diese von ihr geerbt hat. Und nun musste Big Claw dies auf sich allein gestellt erfahren und lernen. Sheere seufzt laut auf. Sie weiss, dass Big Claw stark war, aber konnte sie dies alles auch verkraften und vor allem, konnte sie sich dieses innere, unbewusste Wissen auch zunutze machen?
Ein weiterer Gedanke kommt ihr in den Sinn. Turock muss darüber unterrichtet werden. Wie wird er das aufnehmen? Schweren Herzens geht Sheere zurück zum Palast.
Last edited by bigclaw6; 30/12/04 08:41 PM.