Der Priester atmet tief ein. Der Fremde hatte wohl Recht mit seinem Drängen. Doch die Vorstellung, seine Männer hier und jetzt aus seinen Diensten zu entlassen, behagte ihm ganz und gar nicht. Sie hatten ohne zu zaudern ihr Blut für ihn gegeben, obwohl sie nicht wissen konnten, was ihn zu seinen Entscheidungen auf dieser Mission veranlasst hatte. Sie waren aufgebrochen, um einen flüchtigen Dämonenbeschwörer zu stellen, und zu guter Letzt hatten sie ihn gefunden - und dann doch verschont. Trotz des bis an die Grenzen gehenden sorgfältigen Auswahlverfahrens und der anschließenden hervorragenden Ausbildung der Tempelritter war sich der Priester sicher, dass seine Männer nicht alle Zusammenhänge, die ihn zu seinen Entscheidungen veranlassten, verstehen konnten. Ihm selbst war vieles von dem Geschehenen nicht klar und er vermochte nicht abzuschätzen, was die Ereignisse für die Zukunft zu bedeuten haben würden. Doch zumindest wusste er von den Vorgängen, die vor Äonen stattgefunden hatten und mit deren Folgen sie in dem verlassenen Felsentempel konfrontiert worden waren - etwas, was nur noch wenigen Eingeweihten bekannt war. Umso dringlicher schien es ihm, den beiden verbliebenen Rittern jetzt nicht den Boden unter den Füßen wegzuziehen.

"Unsere Wege werden sich hier trennen." eröffnet er schließlich seinen wartenden Männern. Ihre erstaunte Reaktion bestätigt die Annahme des Fremden, doch bevor sie ihre offensichtliche Ablehnung äußern können, fährt der heilige Mann fort:

"Ich habe eine Aufgabe für euch, die keinen Aufschub duldet. Jemand muss nach Rechem und die dortigen Priester von den Vorgängen in Kenntnis setzen und, was noch viel wichtiger ist, in Erfahrung bringen, ob die Abenteurer den Einsturz des Felsentempels überlebt haben und ob es Verluste unter ihnen gab. Falls sie überlebt haben, wird sie ihr Weg möglicherweise entweder nach Groß Furtheim oder nach Rechem geführt haben, aber keines von beiden ist gewiss. Versucht herauszubekommen, was ihnen widerfahren ist! Sichert euch Unterstützung aus dem Tempel zu, wenn ihr sie braucht - und das werdet ihr! Sollte euch jemand Schwierigkeiten machen - ihr handelt in meinem Auftrag, und nach den Regeln der Kirche seid ihr daher nur mir Rechenschaft schuldig! Viele der Priester werden euer Anliegen nicht begreifen. Für sie ist allein die Exekution das Dämonenbeschwörers und die Erfüllung der kirchlichen Gesetzlichkeit von Interesse. Auch ich vertraue Sadrax noch immer nicht, doch ich glaube zu wissen, dass er noch von Bedeutung für unser aller Schicksal sein wird. Doch sollte er der Kirche in die Hände fallen, wird sie kein Verständnis zeigen. Zu sehr hat sie sich hinter ihren Dogmen verschanzt und lebt in einem selbstgeschaffenen Käfig, jeden mit Feuer und Schwert bekämpfend, der an den Gitterstäben rüttelt. Darüber hat sie ihre eigentliche Pflicht und ihren Glauben vernachlässigt und vergessen..."

Die Worte des heiligen Mannes klingen nun bitter und anklagend. Die beiden vor ihm stehenden Ritter, Diener eben jener angeprangerten Kirche, senken betroffen den Kopf. Doch die lange Gemeinschaft mit dem Priester ist auch bei ihnen nicht ohne Folgen geblieben, und ein Teil seiner Erkenntnis muss auch auf sie gewirkt haben, denn sie nicken bestätigend zu seinen Worten.

"Die Geweihte Undars wird möglicherweise nicht allein in der Lage sein, ihn vor der blinden Wut einiger Priester zu schützen. Es wird Teil eurer Aufgabe sein, sie zu unterstützten. Doch gebt acht, wem der Priesterschaft ihr was berichtet! Ohne Zweifel werdet ihr dem Hohepriester und Emada Bericht erstatten müssen - doch bei beiden habe ich erhebliche Zweifel, ob sie auch die richtigen Konsequenzen ziehen werden! Beide sind in erster Linie Männer der Kirche, und im schlimmsten Fall missverstehen sie die Rolle der Abenteurer, werten sie als Angriff auf den Klerus und beginnen eine Hetzjagd auf sie... Wendet euch daher bevorzugt an jene, die Männer des Glaubens geblieben sind, wie beispielsweise Bruder Halsach. Möglicherweise kann es sogar nötig sein, die Magier um Beistand zu ersuchen."

Die beiden Ritter wechseln einen stummen, erschrockenen Blick. In der Akademie um Hilfe bitten? Es musste wahrlich schlimm stehen, wenn ihnen ihr Anführer solch einen Ratschlag erteilte!

"Wenn ihr die Abenteurer finden solltet, dann teilt ihnen mit, dass der Weg nach Andúneth führt. Mehr kann ich dazu nicht sagen, denn mehr weiß ich selbst nicht."
"Was sollen wir tun, wenn wir sie weder in Rechem noch in Groß Furtheim finden? Wenn sie tot sein sollten?" fragt einer der Ritter.
"Möge Undar das verhindern!" erwidert der Priester. "Ich fürchte, das unsere Welt in Dunkelheit versinken wird, wenn die Abenteurer nicht mehr am Leben sind! Sie und unser aller Schicksal sind eng miteinander verknüpft - dessen bin ich mir nun sicher. Nun zögert nicht länger und geht! Ihr wisst, was ihr zu tun habt!"
"Herr - was ist mit Euch? Warum reisen wir nicht gemeinsam nach Rechem? Es wäre wesentlich einfacher, die Abenteurer zu finden, wenn..."
"Undar hat eine andere Aufgabe für mich bestimmt." unterbricht der Priester den Ritter. "Und es mangelt uns an Zeit, um uns gemeinsam um beide Aufgaben zu kümmern. Nur indem wir uns trennen, können wir vielleicht noch rechtzeitig die Dunkelheit abwenden. Ihr standet immer treu an meiner Seite, ohne je zu zögern oder die Richtigkeit unseres Tuns in Frage zu stellen! Ich weiß, dass ihr auch diese Aufgabe zu Ende bringen werdet, und ich setze mein volles Vertrauen in euch! So Undar will, werden wir einst wieder Seite an Seite stehen!"

Die drei Männer stehen für einen Augenblick schweigend im verharschten Schnee des Berges. Die Verbundenheit, die in diesem stillen Moment zwischen ihnen herrscht, ist fast körperlich zu spüren. Schließlich sagt einer der Ritter leise:
"Wir wären an Eurer Seite gewesen, den ganzen Weg. Wir wären Euch bis hin zum Ende gefolgt, und wenn es hätte sein müssen, sogar darüber hinaus!"

Der Priester nickt und ein Lächeln huscht über sein abgehärmtes Gesicht. Dann tritt er einen Schritt auf die Männer zu und legt jedem von ihnen eine Hand auf die Stirn. Beide Ritter sinken vor ihrem Anführer auf die Knie und beugen das Haupt.

"Indem ihr eure Aufgabe erfüllt, seid ihr an meiner Seite. Und ohne eure Treue hätte mein Weg bereits schon lange ein Ende gefunden. - Möge Undars Licht euren Weg erhellen und euch die nötige Stärke geben, allen Fährnissen zu widerstehen!" flüstert der heilige Mann, und um die Köpfe der beiden Männer breitet sich ein silberner Schimmer aus.

Dann erheben sich die Ritter, und mit einem letzten Blick und einem leichten Nicken machen sie sich an den beschwerlichen Abstieg.