Nachdem der kleine Drache beim Lagerplatz unter dem Felsvorsprung eingenickt ist, meint Lurekar mit gedämpfter Stimme zu Glance und Big Claw: „Gut, dann will ich jetzt eine Geschichte von der Westküste erzählen. Ich nehme an, Ihr habt noch nichts vom Schneevolk gehört? Das sind, wilde, grimmige Leute, die in den kalten Weiten des Eislandes leben. Ihnen bedeuten Mut und Kraft mehr als alles andere. Die Männer tragen Fellkleidung und gehörnte Helme, und sie führen mächtige Streitäxte oder Kriegshämmer.“. Der Musiker atmet tief ein, um kräftiger zu wirken, blickt finster drein und schwingt schnaufend eine imaginäre Axt durch die Luft, um seinen Zuhörern eine Vorstellung vom Schneevolk zu geben. Auch seine folgende Erzählung begleitet er reichlich mit Mimik und Gestik.
„Die Geschichte spielt in einem kleinen Land namens Osterlitsch. Der König von Osterlitsch war ein übellauniger, jähzorniger Mann, deshalb hatte er zeitlebens keine Frau gefunden und war ohne Erben geblieben. Als sich seine Tage allmählich dem Ende näherten, entbrannte ein Streit um seine Nachfolge, und der Rat der Hauptstadt forderte den König schließlich auf, selbst festzulegen, wer nach ihm König werden sollte. So alt, wie er war, fühlte sich der König aber noch gar nicht, und er hatte erst recht keine Lust, dem Rat irgendeinen Gefallen zu tun. Daher ersann er eine Reihe von Aufgaben und bestimmte, sein Nachfolger solle derjenige werden, der als Erster alle Aufgaben lösen könne. Um die Schar der Bewerber in Grenzen zu halten, verfügte er aber gleichzeitig, dass alle dem Tode verfallen sollten, denen es nicht gelänge, auch nur eine der Aufgaben zu lösen. Einige Bewerber fanden sich dennoch, denn ein ganzes Königreich ist schließlich ein kostbarer Preis, wie klein es auch sein mag. Aber alle Bewerber scheiterten an den Aufgaben, und wenn sie nicht schon dabei ums Leben kamen, wurden sie anschließend getötet. So ging es Jahr um Jahr. Die Schadenfreude, die der König beim Tod seiner Möchtegern-Nachfolger empfand, erhielt ihn offenbar am Leben, denn es ging ihm immer besser. Er ließ die Köpfe der Getöteten am Eingang seines Schlosses auf Pfähle spießen, was bereits viele Bewerber abschreckte.
Eines Tages allerdings hörte ein Krieger des Schneevolkes davon, ein hünenhafter Mann namens Skimrig Rotbart. Er reiste nach Osterlitsch und bewarb sich furchtlos um die Nachfolge des Königs. Dieser lachte sich bereits ins Fäustchen. Der fremde Krieger war zweifellos stark, aber er machte keinen besonders klugen Eindruck auf den König, und da niemand bislang auch nur eine seiner Aufgaben gelöst hatte, freute er sich auf den neuen Kopf mit dem roten Bart in seiner Sammlung. 'Wohlan,', sprach der König, 'folge mir in den Garten des Schlosses und versuche dich an der ersten Aufgabe.'. Sie gingen zu einem gewaltigen Felsbrocken, der im Schlossgarten lag, mehr als mannshoch und fast ebenso breit. 'Die Aufgabe ist ganz einfach: Trage diesen Fels aus meinem Garten.', erklärte der König. Skimrig versuchte den Felsbrocken zu packen, aber selbst für einen Mann seiner Kraft war dieser viel zu schwer. Er bewegte sich nicht einmal um Fingerbreite. Da lachte der König. Skimrig indes band nur seinen Hammer vom Rücken, der fast ebenso groß war wie er, hieb einmal kräftig auf den Felsen, und dieser zersprang in viele kleine Brocken, welche der Krieger aus dem Garten trug. Der König wollte das als Betrug werten, doch er musste anerkennen, dass er nicht gefordert hatte, den Felsbrocken in einem Stück zu tragen. So war die erste Aufgabe gelöst.
'Bei der nächsten Aufgabe wird ihm seine Kraft immerhin nichts nützen.', dachte sich der König, obwohl er enttäuscht war, dass er den Kopf des Kriegers nicht bekommen würde. Er führte Skimrig zu einem Hain am Rande des Gartens. Dieser bestand aus hohen Bäumen, in deren Kronen Vögel eine Unmenge an Nestern gebaut hatten. Ständig flogen Scharen von Vögeln ein und aus. 'Die zweite Aufgabe ist: Zähle, wie viele Vögel in diesem Hain leben.', sagte der König. Skimrig begann zu zählen, aber es war aussichtslos. Die Vögel hielten natürlich nicht still, so dass er ganz schnell durcheinander kam und nicht mehr wusste, welcher Vogel nun schon gezählt war und welcher nicht. Da packte der kräftige Mann wieder seinen Hammer und hieb einmal wuchtig gegen jeden Baum. Entsetzt suchten die Vögel das Weite, ihre Nester fielen herunter und zerbrachen, ja einige der Bäume stürzten sogar um. 'In Eurem Hain leben gar keine Vögel.', sagte Skimrig trocken, und der König musste zähneknirschend anerkennen, dass das stimmte. So war auch die zweite Aufgabe gelöst.
'Na warte, die dritte Aufgabe ist unmöglich zu lösen.', tröstete sich der König, und er sprach: 'Im Osten meines Reiches lebt ein schreckliches Ungeheuer, eine Chimärenschlange. Töte sie, um die dritte Aufgabe zu vollbringen!'. Die Chimärenschlange war rund fünfzehn Schritt groß, und sie hatte drei Köpfe – einen Löwenkopf, einen Ziegenkopf und natürlich einen Schlangenkopf. Ihr Anblick war derart grässlich, dass selbst die Tapfersten ihn nicht ertragen konnten und gezwungen waren, in hellstem Entsetzen die Flucht zu ergreifen. Ein Weiser hatte einst vermutet, dass diese Angst magisch ausgelöst wurde. Einige der Bewerber hatten versucht, mit verbundenen Augen gegen das Ungeheuer zu kämpfen, und tatsächlich wurden sie nicht von Furcht ergriffen, aber da sie nichts sehen konnten, hatte die Schlange sie rasch getötet.
Skimrig reiste nach Osten und betrat furchtlos die Höhle des Ungeheuers, den Hammer kampfbereit erhoben. Als er die Chimärenschlange erblickte, krampfte sich sein Herz zusammen, seine Arme erzitterten und seine Beine nahmen Reißaus, ohne dass er es verhindern konnte. Keuchend wartete er vor der Höhle, bis die Angst verflogen war, dann versuchte er es ein zweites Mal, doch wieder trieb ihn unbändige Furcht aus der Höhle. Da packte er seinen Hammer, holte aus, so weit er konnte, und hieb mit einem gewaltigen Schlag gegen den Höhleneingang. Ein Teil der Höhlenwand brach weg, Risse sprangen im Fels auf, und nach einigen Augenblicken stürzte die gesamte Höhle in sich zusammen. In langer Arbeit räumte der Krieger Trümmer fort, bis er den Schlangenkopf fand, der leblos im Geröll ruhte. Skimrig trennte den Kopf ab und brachte ihn zum König zurück. So war selbst die dritte Aufgabe gelöst.
Der König war allerdings ein schlechter Verlierer. Er wollte nicht einräumen, dass alle Aufgaben erledigt waren, sondern sagte: 'Du hast bei allen Aufgaben betrogen. Ein Betrüger kann nicht mein Nachfolger werden. Verschwinde von hier!'. Da antwortete Skimrig: 'Ich habe alle Eure Aufgaben mit Hilfe meines Hammers gelöst. Wenn die vierte Aufgabe Euer Kopf ist, so will ich auch sie mit meinem Hammer lösen.'. Darauf wollte der König jedoch nach Möglichkeit verzichten, und so trat er schließlich widerwillig mit Skimrig vor den Rat der Hauptstadt und verkündete: 'Dieser Krieger hat meine Aufgaben sämtlich gelöst. Er soll mein rechtmäßiger Nachfolger sein.'. Seine eigenen Worte lösten indes so viel Abneigung und Missgunst im Herzen des Königs aus, dass er auf der Stelle tot umfiel. Damit wurde Skimrig sofort zum neuen König. Der Krieger des Schneevolkes veranstaltete ein riesiges Freudenfest und lebte hernach so in Saus und Braus, dass man an der Westküste bei einer großen, unverhofften Freude noch heute sagt: 'Darüber freue ich mich wie der Schneekönig.'“
Mit einem Lächeln verbeugt sich Lurekar und setzt sich wieder an den Felsen.