„So?“, fragt Johram erstaunt und zieht eine Augenbraue hoch, während Lurekar Stone einen verdrießlichen Blick zuwirft. „Lasst uns dieses Artefakt doch einmal sehen!“, fordert Mardaneus den Musiker neugierig auf. „Sie ... sie lässt sich nicht gern untersuchen.“, antwortet der grauhäutige Mann, zieht jedoch zögernd seinen Umhang zur Seite. An seinem Gürtel hängt aufgerollt und regungslos die Bända.
Mardaneus steht auf, um sich das seilartige Etwas näher anzusehen. Mit sichtbarem Widerwillen lässt Lurekar es zu, dass der Magier die Bända in Augenschein nimmt und berührt. „Seid vorsichtig, sie schläft.“, raunt er leise, als wolle er sein Instrument nicht wecken. „Interessant ...“, murmelt Mardaneus, „diese glatte Oberfläche ... das eigenartige Material ... wie seid Ihr an dieses Stück gekommen?“. Während er die Frage stellt, macht der Magier eine greifende Geste, und eine leuchtende Kugel erscheint in seiner Hand, die er nahe an die Bända hält. Nichts geschieht. „Sie begleitet mich seit langer Zeit.“, erklärt Lurekar ausweichend, „Und Ihr bemüht Eure Magie vergebens. Sie ist nicht hungrig, weil sie bereits heute früh eine Menge gegessen hat.“
„Ihr wollt also ernsthaft behaupten, dies sei ein Lebewesen, das sich von Magie ernährt?“, mischt sich Johram ein, „Es gibt einige Lebewesen und Dinge, die recht resistent gegen manche Formen der Zauberei sind – für einen Laien mag das aussehen, als würde der Zauber verschlungen. Seid Ihr sicher, dass es nicht vielleicht etwas in dieser Richtung ist?“. Lurekar lächelt nur müde: „Da bin ich mir in der Tat sicher. Meine Bända ist ein Lebewesen, und sie ernährt sich von Magie. Wenn Ihr mir nicht glaubt, fragt Glance A'Lot oder Big Claw, sie haben es mit eigenen Augen gesehen.“
Johram sieht zu den beiden auf, sie widersprechen jedoch nicht, und Mardaneus ergreift fasziniert das Wort: „Eure Bända ist zweifellos etwas Besonderes. Ihre Schwärze erstreckt sich auch in den magisch sichtbaren Bereich ... sie gibt ihre Geheimnisse anscheinend nicht gern preis. Wenn wir jetzt ein paar Tage Zeit und Ruhe hätten, um ihre Arkana zu ergründen, wäre das sicher äußerst aufschlussreich für uns alle!“. Voller Vorfreude reibt sich der alte Magier die Hände. „Und möglicherweise wäre es auch äußerst gefährlich für uns.“, fügt Johram in nüchternem Ton hinzu, „Lordazans Forschungen legen den Schluss nahe, dass etwas, das auf geistigem Wege gebündelte Energien aufnimmt, auch vor dem Geist selbst nicht Halt macht, sofern der psychosensorische Koeffizient einen kritischen Wert übersteigt. Nein, ich glaube, es ist besser, wenn wir mit der vorbereiteten Methode fortfahren.“
Mardaneus dreht sich zu seinem Kollegen um, nickt langsam und setzt sich wieder. „Bodasen hat uns bereits Informationen über Euch zukommen lassen,“, meint Johram erklärend, „daher sind wir nicht unvorbereitet hierher gefahren. Ich habe eine geschätzte Kollegin von der Abteilung für Alchemie um einen Trank gebeten, der Euch helfen wird ...“ – mit diesen Worten holt der weißbärtige Mann eine kleine Flasche mit einer klaren Flüssigkeit hervor und hält sie dem Musiker hin. „Was ist das für ein Zeug?“, fragt Lurekar misstrauisch. „Wie ich schon sagte: Es wird Euch helfen ...“, entgegnet Johram mit einem leicht missbilligenden Kopfschütteln, „Ich bin sicher, die Ingredienzien sind für Euch nicht von Belang. Bei Zaubertränken ist es ähnlich wie bei Wurstwaren – manchmal ist es besser, man weiß nicht zu genau, was alles drin ist.“
Zögernd greift der schwarz gekleidete Mann nach der Flasche, entkorkt sie und riecht vorsichtig an ihrem Inhalt. Dann zuckt er mit den Schultern, führt den Trank zum Mund und leert die Flasche in einem Zug. Unwillkürlich schüttelt er sich. „Wenn es ebenso wirksam wie bitter ist ...“, meint er und sieht auf seine Hand. An seiner grauen Hautfarbe ändert sich jedoch nichts. „Oh, vielleicht hätte ich sagen sollen, in welcher Weise der Trank Euch helfen wird.“, sagt Johram mit einem verschmitzten Grinsen, „Dieses Serum wird Euch nämlich helfen, die Wahrheit zu sagen.“. Ungläubig starrt Lurekar den alten Mann an. „Ihr habt mich getäuscht!“, entfährt es ihm, aber neben einer leichten Entrüstung schwingt fast so etwas wie Bewunderung in seiner Stimme mit. „Ich bin seit mehr als vierzig Jahren Ausbilder an der Akademie.“, erwidert Johram nur ruhig, „Glaubt mir, es ist schwer, eine Lüge vor mir verborgen zu halten. Auch wenn ich Euch zugestehen will, dass Ihr Euch weitaus geschickter anstellt als der überwiegende Teil meiner Schüler. Und nun solltet Ihr uns erzählen, wie Ihr hierher gekommen seid, ob Ihr diesen Sukkubus wirklich gesehen habt und was dann geschehen ist.“
„Ich habe Euch in der Tat angelogen.“, erklärt Lurekar in trotzigem Tonfall, aber an seinem überraschten Gesichtsausdruck ist abzulesen, dass er eigentlich das Gegenteil sagen wollte. Rasch schlägt er die Hand vor den Mund, dann murmelt er vorsichtig: „Vielleicht ... sollte ich lieber gar nichts mehr sagen.“
„Das wäre nicht in Eurem eigenen Interesse.“, antwortet Johram erstaunlich geduldig, „Seid versichert, wir haben nicht vor, all Eure privaten Geheimnisse zu erforschen. Aber wenn wir Euch helfen sollen, müssen wir in allen Einzelheiten wissen, was tatsächlich vorgefallen ist. Ihr seid also gut beraten, uns umfassend in Kenntnis zu setzen. Selbst wenn es Euch aus irgendeinem Grund unangenehm sein sollte, darüber zu sprechen. Also: Aufgrund Eures fremdländischen Akzents glaube ich Euch gern, dass Ihr nicht von der Ostküste stammt. Wie seid Ihr dann hierher gekommen?“
Lurekar senkt den Kopf. Nach einer kleinen Pause blickt er wieder auf und meint zögernd: „Was genau vorgefallen ist ... daran habe ich nur eine verschwommene Erinnerung. Wir haben nach einem Auftritt noch in der 'Tanzenden Ratte' in Tuchstadt gefeiert und ausgiebig den jungen Wein genossen. Ich glaube, ich ... verschwand irgendwann mit der hübschen dunkelhaarigen Schankmaid auf ihr Zimmer. Nach einer Weile tat wohl der Wein ... vollends seine Wirkung. Als ich wieder zu mir kam, lag ich im Wald in der Nähe des Leuchtturms von Rechem. Mir brummte der Schädel, ich war nur spärlich bekleidet, und meine Sachen lagen verstreut um mich herum. Dafür beugte sich diese seltsame Frau über mich, die Ihr als Sukkubus bezeichnet.“
„Nun, das klingt mir fast, als wäre diese Schankmaid in Wahrheit eine Dämonin gewesen.“, überlegt Johram laut. Der schwarz gekleidete Mann schüttelt jedoch den Kopf. „Nein, das kann ich nicht glauben. Ich, äh ... kannte sie bereits von früheren Auftritten. Und warum hätte sie ihre Gestalt dann zweimal ändern sollen? Als ich erwachte, sah ich eine ganz normale Menschenfrau – hübsch, aber nicht atemberaubend schön. Sie sprach freundlich mit mir und strich mir über die Stirn ... in ihrer anderen Gestalt später hatte sie genau dieselbe Stimme, aber das war nicht die Stimme der Schankmaid.“
„Das ist in der Tat merkwürdig.“, pflichtet Mardaneus bei, „In zwei Gestalten dieselbe Stimme, aber in der dritten nicht? Dafür müsste es schon eine besondere Erklärung geben. Und Ihr wart gelähmt?“. Lurekar hüstelt verlegen. „Also ... äh, nein.“, druckst er herum, schielt hinüber zu Big Claw und meint dann zu Johram gewandt mit gesenkter Stimme: „Könnten wir vielleicht die Dame bitten, für einen Augenblick den Raum zu verlassen?“. „Nein,“; antwortet Johram bestimmt, „die Dame bleibt hier. Sie hat das gleiche Recht, die Wahrheit zu erfahren, wie die anderen hier, die Ihr belogen habt. Und Ihr solltet nicht von Ihr sprechen, als wäre sie gar nicht anwesend.“. Der Musiker schüttelt den Kopf und seufzt. „So meinte ich das nicht. Entschuldigt, Big Claw, ich wollte Euch nicht kränken. Ich ... dachte nur, dass Ihr vielleicht ... lieber nicht hören wollt, was ich jetzt erzählen werde. Aber Magister Johram hat wohl Recht – Ihr solltet nicht als Einzige im Unklaren gelassen werden.“
Lurekar streicht sich mit beiden Händen übers Gesicht, bevor er fortfährt: „Die meisten Männer werden es wohl wie ich als sehr angenehm empfinden, wenn sich eine hübsche Frau um sie kümmert. Ich hatte Kopfschmerzen und wusste nicht, wieso ich im Wald lag, aber das Gefühl, umsorgt zu werden, tröstete mich darüber hinweg. Die Unbekannte half mir auf, rieb mir mit einem feuchten Tuch über die pochende Stirn und nahm mich freundlich in den Arm. Ich ... ich verstand nicht ganz, wie mir geschah, ließ es jedoch gerne zu. Aufgrund meines Zustands bekam ich nicht alles ganz mit, was sie sagte. Schließlich fragte sie mich, ob ich es denn auch etwas aufregender möge, und ich, äh ... nickte begeistert mit dem Kopf.“. Betreten blickt der hagere Mann zu Boden. „Da verwandelte sie sich in ihre andere Gestalt: Groß, mit hellblauer Haut, seltsamen Schwingen, und ... sehr weiblich.“
Vorsichtig lugt der Musiker unter seiner Kapuze hervor zu Johram und Mardaneus. „Bestimmt denkt Ihr jetzt, dass ich erschrocken zurückwich. Ich frage mich schon die ganze Zeit, warum ich das nicht getan habe. Nein, ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ... ich die seltsame Frau sehr attraktiv fand und ... mehr von ihr wollte.“
Verlegenes Schweigen breitet sich im Raum aus. Dann lacht Mardaneus laut. „Ihr habt gelogen, weil es Euch peinlich war, den Reizen eines Sukkubus erlegen zu sein? Oh, da hat es schon ganz andere Männer gegeben, die genauso schwach waren wie Ihr. Das muss Euch nicht peinlich sein; im Gegenteil: Wenn Ihr standhaft geblieben wärt, könntet Ihr Euch einiges darauf einbilden.“. Überrascht sieht Lurekar den Magier an und reibt sich das Kinn. „Ihr ... Ihr meint, es war nicht abartig, Verlangen nach einem derart seltsamen Geschöpf zu verspüren?“
„Oh, es ist sicher widernatürlich,“, entgegnet Mardaneus, „aber die scheinbare Attraktivität des Sukkubus beruht mit auf Magie. Auf diese Weise wickelt der Dämon seine Opfer ein, bis hin zum verhängnisvollen Kuss ... sagt, Ihr habt Eurer 'seltsamen Frau' nicht zufällig einen innigen Kuss gegeben, oder? So bringt sie ihren Opfern das Verderben. Wer einen Sukkubus küsst, dessen Seele wird in den Dämon gezogen und ist für immer verloren. Das kann Euch eigentlich nicht passiert sein, denn sonst lägt Ihr tot im Wald und stündet nicht hier vor uns.“
„Ich ...“, setzt Lurekar an, aber dann holt er erst einmal seinen Wasserschlauch hervor und nimmt einen kräftigen Schluck. Anschließend spricht er mit leiser Stimme weiter: „Ich habe sie geküsst. Aber in diesem Augenblick ist etwas sehr Seltsames geschehen. Sie ... ich ... wir spürten eine gewaltige Erschütterung, obwohl nichts Außergewöhnliches zu sehen war. Ich ... kann es schlecht beschreiben. Es war wie eine heftige Böe, aber ohne Wind ... ein Erdbeben, ohne dass die Erde schwankte. Vielleicht ... war ich auch noch zu benommen vom Wein und bildete mir das nur ein? Jedenfalls zerfiel dieser ... Sukkubus im gleichen Augenblick zu Staub.“
Johram streicht sich nachdenklich über den Bart. „So ... und das war vorgestern, kurz bevor Ihr in den Leuchtturm geplatzt kamt?“. „Äh, nein.“, räumt Lurekar ein, „Das ist schon mehrere Tage länger her. Ich drückte mich verwirrt und unsicher im Wald umher, weil ich nicht wagte, in diesem Zustand eine fremde Stadt zu betreten. Ich hoffte, irgendwann würden vielleicht Leute vorbeikommen, bei denen ich auf etwas mehr Verständnis rechnen konnte als bei misstrauischen Stadtwachen.“
„Mehrere Tage, sagt Ihr?“, fragt Johram und zieht die Stirn in Falten. „Die arkane Welle!“, ruft er plötzlich, „Das ist es, was Ihr gespürt haben müsst. Nur sie kann Euch vorgekommen sein wie eine Böe ohne Wind. Ich frage mich nur, weshalb Ihr sie in dieser Stärke wahrgenommen habt ... und was sie bei Euch bewirkt haben mag.“. Grübelnd wiegt der weißbärtige Mann den Kopf hin und her. „Ich brauche eine Weile, um mir über die möglichen Konsequenzen klar zu werden und mit meinem Kollegen darüber zu reden. Vielleicht haben in der Zwischenzeit ja Eure Begleiter noch ein paar Fragen an Euch.“