„Seinem Schicksal folgen ...“, murmelt Lurekar, „wenn das so einfach wäre. Ich habe keine Ahnung, was das Schicksal für mich bereithält. Ich würde ...“. In diesem Augenblick räuspert sich Johram, der seine Diskussion mit Mardaneus offenbar beendet hat. Der Musiker verstummt sofort und blickt erwartungsvoll zu den beiden alten Magiern.
„Wir haben eine Vermutung, was mit Euch und dem Sukkubus passiert sein könnte.“, beginnt Johram, „Um diese Vermutung zu bestätigen, wird Euch mein Kollege zunächst jedoch untersuchen.“. Mardaneus steht auf und geht zu dem grauhäutigen Mann. „Ich besitze nicht ganz die Kenntnisse eines Priesters,“, erklärt er, „aber ich denke, ich werde die Anzeichen finden, sofern sie vorhanden sind. Schlagt bitte Eure Kapuze zurück.“
Lurekar befolgt die Anweisung. Zum ersten Mal in den letzten zwei Tagen ist sein kurzes, schwarzes Haar zu sehen, das wie die Stacheln eines Igels nach allen Seiten absteht. Ohne den Schatten der Kapuze sind auch seine Gesichtszüge besser zu erkennen. Die graue Haut macht es nach wie vor schwer, das Alter des hageren Mannes einzuschätzen, aber er dürfte um die dreißig Jahre alt sein. Mardaneus murmelt ein paar Silben, hält seine Hände dicht über Lurekars Kopf und bewegt sie langsam über Stirn, Schläfen und Nacken. Ab und zu ist dabei ein rötliches Glühen zu sehen. Schließlich beugt sich der Magier direkt vor das Gesicht des Musikers und blickt ihm forschend in die schwarzen Augen.
„Ja, es ist tatsächlich, wie wir vermutet haben.“, meint er mit einer Stimme, die eher fasziniert als sachlich klingt, „Von einem Fall wie Euch ist überhaupt noch nie berichtet worden! Um es gleich deutlich zu sagen: Ihr seid nicht von einem Dämon besessen; das wäre bei einem Sukkubus auch äußerst ungewöhnlich. Aber die arkane Welle traf Euch mit ungeheurer Wucht, gerade als der Sukkubus Eure Seele in sich aufzunehmen versuchte – dem Augenblick, da der Dämon am verwundbarsten ist. Das bewirkte offenbar einen Reflux, eine Umkehr der magischen Energien: An Eurer Statt wurde der Dämon vernichtet, und Ihr nahmt einen Teil seiner 'Seele' – wir sprechen bei Dämonen lieber von 'Essenz' – in die Eure auf. Das erklärt auch Eure Haut- und Augenfarbe.“
Mit großen Augen und ziemlich ratlos sieht Lurekar den Magier an. „Ich will es Euch mit einem Vergleich erklären.“, meint dieser, „Stellt Euch Eure Seele als ein Glas Wasser vor. Die Essenz des Sukkubus ist wie ein Tropfen Tinte, der hineingeträufelt wurde und sich fein verteilt hat. Äußerlich zeigt sich das in Eurer grauen Hautfarbe und Euren schwarzen Augen. Das allein ist noch nicht so beunruhigend ... schließlich enthält nicht jedes Glas von vornherein klares Wasser. Aber diese spezielle Tinte – die dämonische Essenz – besitzt die Kraft, Wasser in Tinte zu verwandeln, wenn Ihr so wollt. Ohne Gegenmaßnahmen wird die Flüssigkeit im Glas immer dunkler, bis sie ganz aus Tinte besteht.“
„Wie ... wie schnell kann das denn gehen?“, fragt der Musiker bestürzt, „Und wie lässt es sich heilen?“. Mardaneus kratzt sich nachdenklich am Kopf. „Wie lange es dauern mag, kann ich schwer sagen. Ihr seid möglicherweise die erste Person, der so etwas überhaupt zugestoßen ist. Ich vermag nur schlecht zu beurteilen, wie viel Widerstand Ihr der dämonischen Essenz entgegensetzen könnt ... das verstünde ein Priester genauer zu sagen. Ihr könnt den Vorgang allerdings verzögern, indem Ihr Euch bemüht, aktiv Gutes zu tun – anderen zu helfen, Euch selbstlos zu verhalten. Willkür, Grausamkeit, Heimtücke und das Bestreben, anderen zu schaden, würden das Ganze hingegen beschleunigen.“
„Was eine Heilung angeht,“, schaltet sich Johram ein, „bestehen leider einige gravierende Probleme. Eure Seele ist im Strom der arkanen Welle mit der dämonischen Essenz verbunden worden – wie zwei Metalle, die im heißesten Feuer legiert wurden. Ein gewöhnlicher Exorzismus wird daher wirkungslos bleiben. Um die Verbindung zu trennen, muss wieder die gleiche Temperatur erreicht werden, bei der die Ausgangsstoffe verschmolzen wurden. Das heißt, es muss magische Energie der gleichen Intensität aufgebracht werden wie bei dem Teil der arkanen Welle, von dem Ihr getroffen wurdet. Darüber fehlen uns genauere Informationen, ich fürchte jedoch, es dürfte äußerst schwierig, wenn nicht gar unmöglich werden. Magier können ihre Kräfte nur in begrenztem Umfang zusammenschließen. Ich bin nicht sicher, ob wir genug Energie aufbrächten, selbst wenn sich alle Magier der Akademie zusammentäten, um sich an Eurer Heilung zu versuchen – was aufgrund verschiedenster Umstände ohnehin nicht geschehen würde.“
„Aber ...“, wendet Lurekar zögernd ein, „aber ich war anscheinend so weit weg von diesem Tempel. Wie kann die Welle dann so stark gewesen sein, dass Ihr nicht einmal mit vereinten Kräften in der Lage seid, ähnlich mächtige Magie aufzubieten?“. „Oh,“, antwortet Johram, „Ihr dürft Euch die arkane Welle nicht wie eine Wasserwelle vorstellen. Es ist nicht so, dass Ihr einen Stein ins Wasser der Magie werfen könntet, und eine kreisförmige Welle breitet sich gleichmäßig in alle Richtungen aus. Magische Energie ist eher wie ein Blitz zwischen Himmel und Erde: Sie nimmt einen verästelten Weg entlang der Pfade, die wir als magische Feldlinien bezeichnen. Zahlreiche solcher Magieblitze müssen vom Tempel fortgeschossen sein, als das Siegel geheilt wurde. Wir haben sie auch in Rechem deutlich bemerkt, und Ihr habt anscheinend mitten im Hauptast eines solchen Blitzes gestanden.“
Der Magier gießt sich Wein nach und nimmt einen Schluck. „Dennoch habt Ihr Recht. Es passt nicht zusammen, dass die Welle in dieser Entfernung stark genug war, einen Reflux auszulösen, obwohl Bodasen und die anderen sie in unmittelbarer Nähe weitgehend unbeschadet überstanden haben. Irgendwo hier muss es noch einen unbekannten Faktor geben, der das Ganze vollends erklärt. Solange uns diese Einzelheit verborgen ist, aber vielleicht selbst dann, wenn wir sie aufspüren, müssen wir davon ausgehen, dass Ihr mit unseren Kräften nicht geheilt werden könnt ... es tut mir Leid.“
Lurekar starrt den weißbärtigen Mann entsetzt an. „Wenn nicht mit Euren Kräften ...“, stammelt er, ohne viel zu überlegen, „womit dann?“. Johram streicht sich über den Bart, während er antwortet: „Eine gute Frage. Bis vor kurzem hätte ich vielleicht gesagt, dass es göttlicher Kräfte bedarf. Immerhin wissen wir jedoch aus der Untersuchung von Artefakten, dass die Alten über weit größere Kräfte verfügt haben müssen als wir heute. Sie dürften den Schlüssel zu magischen Energien solchen Ausmaßes gehabt haben, wie Ihr sie braucht. Der beste Rat, den ich Euch geben kann, lautet daher, Euch an den Stätten der Alten umzusehen.“
„Ohne Euch entmutigen zu wollen,“, fügt Mardaneus hinzu, „das allein reicht jedoch nicht. In dem Augenblick, in dem die Verbindung aufgeschmolzen wird, muss jemand, der sich hervorragend aufs Austreiben von Dämonen oder aufs Heilen versteht, am besten natürlich beides, die Essenz des Dämons in ein geeignetes Gefäß führen. Dazu könnte der Aquamarin dienen, den Ihr uns gezeigt habt. Er wurde anscheinend schon als Seelenstein für den Sukkubus benutzt, obwohl er dazu eigentlich schlecht geeignet ist. Dass sich die Essenz des Dämons bereits einmal darin befand, würde die Sache für den Ausführenden jedoch erleichtern.“
Verzweifelt sieht Lurekar von den Magiern zur Gruppe und wieder zurück. „Wenn das alles so kompliziert ist, welche ... welche Hoffnung bleibt mir dann überhaupt noch?“