Durch den schwachen Mondschein hindurch galoppierte das Einhorn. Der Mond, dessen Licht durch die Blätter des Waldes fiel, beleuchtete seinen Weg. Das Einhorn brauchte dieses Licht nicht wirklich, denn tief in seinem Inneren wußte es, wo es hin mußte. Sein Weg war vorbestimmt.
Das Mondlicht leuchtete noch für jemand anderen : Das Einhorn wurde von einem Pferd begleitet. Es hatte sich freiwillig dem Einhorn als Begleitung angeboten, und folgte ihm nun. Anders als das Einhorn hatte es nicht den Weg vorherbestimmt. Das Pferd konnte den Lichtschein des Mondes sehr gut gebrauchen, wenngleich wie durch ein Wunder sich nie größere Hindernisse auf dem Weg befanden. Genauer betrachtet war dies kein Wunder : Instinktiv wählte das Einhorn den weg so, daß sie an allen Widerständen vorbeigalloppierten. Mehr als ein Mal wurden sie von Räubern und Wanderen gesehen - als Ferne Schatten, die im Mondlicht vorbeigaloppierten. Und manch einer von ihnen fiel vor diesem Wunder ehrfürchtig in die Kniee und weinte, den diese hatten immer geglaubt, daß Einhörner nur ein fernes Märchen seien, eine Geschichte, die man braven Kindern in einer sternenerfüllten Nacht erzählte. Eines leibhaftig zu sehen - und sei es auch nur als ferner Schatten - war zuviel für sie.
Nach Stunden eines einsamen Galoppes durch Wälder und über Ebenen kamen sie in ein Gebiet, das nach frischem Meerwind duftete. Der salzige Geruch war in diesem Landstreifen überall spürbar. Das Einhorn änderte die Richtung leicht.
Dort, auf einer Lichtung sahen die beiden Tiere zwei Gestalten, die in die Nacht hineingingen, in einen Wald hinein, der den Küstensaum jenes Landes bildete. Sie lockerten das Tempo.
Diese beiden Gestalten waren ein Mensch und eine Elfin, wie das das Pferd sah und das Einhorn spürte.
Kurz vor den beiden halten sie an, sichtlich überrascht von beiden beäugt. Das Pferd löst sich bald von der Gruppe, um sich etwas weiter weg unter einen Baum zu stellen.
„Seid gegrüßet, Big Claw, Elfin aus dem Hause Mogador !“ begrüßt das Einhorn die Elfe. „Und seid gegrüßt, Alrik, der aus dem Hause der Fassbauern !“ begrüßt es den Menschen etwas weniger formal. Die beiden scheinen sich zu kennen, denkt die Katze, die aus einiger Entfernung das Geschehen beobachtet. Sie maunzt kurz, und erntet dafür ein leises Nicken des weißen Einhorns über die Lichtung hinweg, ebenso wie der Kater, der lautlos neben der Katze steht.
„Ich habe eine wichtige Nachricht für dich, mein Freund. Sie ist von der Göttin : Sie möchte, daß du dich möglichst bald mit ihr in Verbindung setzt - indem du meditierst. Sie ist der Meinung, es ist soweit.“
„Was ist soweit ?“ fragt der sichtlich irritierte, aber auch erfreute Mensch. „Das wird dir nur die Göttin selbst sagen. Ich aber habe eine andere Aufgabe.
Deine Göttin ist auch der Meinung, daß es soweit ist, dein Amulett zu aktivieren. Das werde ich tun. Dafür bin ich hier. Hol es heraus !“
Zu Big Claw gewendet fährt es fort: „Ich möchte Euch bitten, diesen Platz zu verlassen. Ihr könnt euch zu meinem Begleiter gesllen, dem Pderd, das dort drüben am Waldrand unter dem Baum steht. Vielleicht könnt Ihr Euch mit ihm etwas unterhalten. Ich habe hier etwas zu tun, das nur uns beide - mich und Euren Begleiter - angeht. Bitte benutzt keine Magie, bis wir fertig sind. Ich danke Euch.“
Ergriffen nickt Big Claw und wendet sich zur Seite - zum Pferd hin, das neben einem Baum steht, und bereits schnaubend auf die Elfin wartet.
Alrik hat derweil umständlich sein Amulett, das er immer um seinen Hals trägt, unter der Kleidung herausgezogen. „Behalt es an !“ sagt das Einhorn bestimmt. Es wartet kurz, bis Big Claw bei dem Pferd angekommen ist, dann spricht sie ihn nochmals an. „Nun zu uns : Die Göttin hat mich auserwählt, dein Amulett zu aktivieren. Sie sagt, es ist soweit. Frag mich nicht, warum, das weiß nur sie. Sie wird es dir zu gegebener Zeit offenbaren. Wir haben hier anderes zu tun.“ Das Einhorn schaut das Amulett an: Eine goldene Kette, in der ein Stein eingefaßt ist, der die lichtgrüne Farbe Farbe eines sonnendurchfluteten Laubblattes hat.
„Erinnerst du dich an das Amulett ? Sieh es dir an !“ Alrik ist etwas verwirrt, tut aber wie geheißen. Das Amulett ist wunderschön ... besonders der Stein hat es ihm angetan.
„Der Stein ist ein Geschenk der Göttin. Sie hat dir nie gesagt, warum und wozu, weil sie der Meinung war, dies wäre eine Sache für den richtigen Zeitpunkt. Dieser ist nun gekommen. Sagt sie. Ich bin hier, weil es meine Aufgabe ist, es zu aktivieren.
Tu genau, was ich dir jetzt sage ! Stell dich hier hin - bleib am Besten so stehen, wie du jetzt bist, aber mit festem Kontakt zur Erde. Breite die Arme aus, bis sie eine waagerechte Linie bilden.
Schließe dann die Augen. Ich werde mit meiner Magie das Amulett aktivieren. Dazu ist es notwendig, daß ich den Stein mit meinem Horn berühre. Verhalte dich ganz ruhig ! Wenn du entspannt bist, wird dir nichts passieren. Halte die Augen geschlossen ! Die magische Energie könnte dich sonst über Tage hinaus blenden ! Deine Begleiterin habe ich auch aus diesem Grund fortgeschickt. Dies ist eine höchst persönliche Sache, und sie geht nur dich etwas an - und mich, als Ausführende. Fangen wir an !“
„Gut“ antwortet Alrik, „gib mir Bescheid, wenn ich einen Fehler mache !“ „Ab dem Moment, an dem ich den Stein berühre, bist du auf dich allein gestellt ! Ich kann dir dann nicht mehr helfen ! Solange du aber entspannt bist, wird nichts geschehen !“
Die beiden Katzen verfolgen die seltsame Szenerie aus der Entfernung, vor Blicken durch ein dichtes Bllätterdach geschützt.
Auf der Lichtung steht ein Mann in einer Kleidung, die die viele Menschen in der Stadt auch tragen. Auf seinem Rücken hängt ein rundlicher, vollgestopfter, verwaschener Rucksack, in dem sich viel Kleidung befindet.
Er breitet langsam die Arme aus, bis sie eine waagerechte Linie bilden. Er schließt seine Augen, nachdem er sich so gut es geht entspannt hat. Das Einhorn, das ganz dicht vor ihm steht, wartet einige Sekunden, dann senkt es seinen Kopf und berührt mit seinem Horn etwas auf der Brust des Menschen.
Der Kater, der etwas von Magie verstand - lange Zeit hatte er in den Räumen der Magierakademie zugebracht - erwartete nun einen magischen Blitz. Aber das Gegenteil war der Fall. Der Stein auf der Brust glüht nur in einem überaus starken lichten Grün auf, das für einen winzigen Augenblick heller ist als der Schein der Sonne, dann wieder auf ein Normalmaß zurückgeht und nun mit der Stärke einer Fackel glüht und pulsiert, aber immernoch in jenem lichten Grün, das aussieht, wie das Licht, das durch ein Laubblatt hindurchscheint, bevor es auf den Waldboden trifft.
Während dies geschieht, bildet sich - ausgehend von dem Amulettstein - um Einhorn und Mensch herum mit steigendem Tempo eine Aura, die in dem gleichen Licht glüht und pulsiert, und nach und nach immer größer wird - bis es schließlich den ganzen Planeten durchdringt - und dann verlöscht, scheint es.
Als Alrik sine Augen wieder öffnet - Ewigkeiten sind seitdem vergangen, scheint es ihm - sieht er den Kristall, wie er in dem Amulett auf seiner Brust glüht und pulsiert - wie ein lebendiges Wesen, das zu atmen scheint. Langsam senkt er seine Arme. Das Einhorn steht einen Schritt vor ihm und nickt langsam, es scheint fast, als ob es sich verneigen wolle. „Wenigen ist bisher diese Ehre zuteil geworden, Alrik. Du bist ein von der Göttin auserwählter, und dein Schicksal ist fest bestimmt. Sie wird es dir bald enthüllen. Nun müssen wir uns wieder trennen, aber bis da hin kann ich euch auf eurer Suche behilflich sein. Es macht Spaß, wieder unter Zivilisierten zu sein !“ Ein fröhlicher Ton liegt in seiner Stimme, als freue es sich ehrlich, mit den Gefährten ein Abenteuer erleben zu dürfen - so, wie ein Kind, das aus einer verantwortungsvollen Aufgabe entlassen wird und sich nun frei im Spiel austoben darf.
Alrik winkt zu Big Claw und dem wiehernden Pferd hinüber. „Du mußt das Amulett nun weiterhin tragen. Keine Angst, es wird nicht mehr verloren gehen. Es ist nun dein lebenslänglicher Begleiter - und dein Kontakt zur Göttin selbst. Eine hohe Ehre !“ Mit einem Gesichtausdruck, der höchste Verwunderung ausdrückt, schaut Alrik das Einhorn an, und schüttelt verwirrt den Kopf, weil er es nicht ganz glauben kann, was er da gerade gehört hat. „Versteck nun das Amulett, es ist hier nicht mehr von nutzen: Ihr braucht es nicht bei eurer Suche. Ihr habt ja mich.“ fügt das Einhorn mit einem lächelnden Unterton hinzu.
Als Big Claw und das Pferd an ihrem Platz eintreffen, kommen auch die beiden Katzen hinzu. Während das Einhorn die die Katze und den Kater begrüßt, begrüßt Alrik das Pferd. „Laßt uns gehen !“ fügt er hinzu, „wir haben diese Nacht noch einen Drachen und einen Menschen zu finden !“
Gemeinsam gehen sie los.