Einige Augenblicke lang schweigt Tork Emada, nachdem Glance seine Erzählung beendet hat, und versucht seine Gedanken zu ordnen. Was dieser Elfenmischling berichtet hat, ist beunruhigend. Inwieweit sagt er überhaupt die Wahrheit? Seine Geschichte enthält eigentlich zu viele überzeugende Details, um frei erfunden zu sein. Wenn, dann sind wohl nur einzelne Passagen erlogen oder ausgelassen worden, so viel scheint sicher zu sein. Und wer besitzt diese Informationen sonst noch? Irgendwelche elfischen Weisen auf einer fernen Insel – auf deren Aussagen werden hier nicht viele Leute etwas geben. Aber die heilige Kriegerin weiß ebenfalls Bescheid, und ihr Wort besitzt Gewicht. Veränderungen bahnen sich immer deutlicher an. Es wird zum Konflikt mit den Dogmatikern kommen. Eine gefährliche Zeit zieht herauf. Eine Zeit voller Chancen für den Wissenden.
„Ihr seid mutig, Eure Karten so offen auf den Tisch zu legen – oder leichtsinnig.“, sagt der oberste Ketzerjäger schließlich mit einem kryptischen Lächeln zu Glance, „Und Ihr habt Glück, dass Ihr das Ganze mir erzählt habt. Andere Priester hätten sicher längst versucht, Euch zum Schweigen zu bringen. Aber was sollte mich daran hindern, jetzt einfach aufzustehen und zum Tempel zurückzugehen?“. Tork Emada macht zwar keine Anstalten, sich zu erheben, er fügt nach einer kleinen Pause jedoch zynisch hinzu: „Welchen Wert habt Ihr für mich noch, jetzt da ich alles weiß, was Ihr wisst?“
„Wer alle Karten ausgespielt zu haben scheint,“, antwortet Lurekar ruhig und hebt zum ersten Mal während des Gesprächs den Kopf, „der zieht den nächsten Trumpf vielleicht aus seinem Ärmel.“. Im fahlen Licht von Jambonds Laterne wirkt die graue Haut des Musikers nur, als läge ein dunkler Schatten darauf, doch seine völlig schwarzen Augen sehen fast so aus wie leere Höhlen. „Ihr wisst nichts über mich und meine Rolle in dieser Geschichte.“, fährt der Schwarzgekleidete fort, „Ihr habt keine Ahnung, welche Mächte ich vertrete. Und fragt Ihr Euch nicht auch, inwieweit Rechems mächtige Nachbarstadt Groß Furtheim in die Sache verwickelt ist?“
Ein schwaches Lächeln huscht über Lurekars Lippen, dann senkt er wieder den Kopf. „Eure Ankündigung, von hier zu verschwinden, mag andere zu Fehlern verleiten – uns nicht. Ihr seid kein Mann, der sich mit einem Teil der Informationen begnügt. Ihr wollt alles wissen. Wir haben Euch erste Informationen geliefert. Jetzt seid Ihr an der Reihe, bevor wir Euch mehr preisgeben. Seht in Eurem Tempel nach, was Ihr finden könnt. Oder verschafft uns gleich Zutritt zu Eurer Bibliothek.“
„Das ist völlig ausgeschlossen!“, protestiert Emada, „Niemand könnte Fremde, noch dazu Ungläubige, in die Tempelbibliothek einlassen. Höchstens der Hohepriester, und der würde das niemals tun.“ – zumindest der gegenwärtige nicht, ergänzt er in Gedanken. Diese Fremden sind ein bisschen zu wissbegierig für seinen Geschmack. Informationen zu teilen, ist immer eine kritische Angelegenheit, vor allem, wenn man noch nicht genug über denjenigen weiß, dem man sie überlässt. Vielleicht kann man die beiden ja mit ein paar kleinen Brocken und Hoffnungen abspeisen? In freundlicherem Ton erklärt er: „Nun gut, ich werde mich im Tempel nach Informationen umsehen, die Euch nützlich sein könnten. Die Bibliothek ist jedoch sehr umfangreich, und die Suche kann lange dauern. Ihr werdet verstehen, dass ich in einer derart heiklen Sache nicht um die Unterstützung anderer Priester bitten kann. Erwartet also nicht zu viel.“
Bedächtig schüttelt Lurekar den Kopf. „So vernünftig das auch klingen mag, damit können wir uns nicht zufrieden geben. Ich denke, Ihr seid nicht ganz ehrlich mit uns. Was wir Euch erzählt haben, ist geeignet, die Grundfesten eines gläubigen Menschen schwer zu erschüttern. Ihr macht keinen besonders erschütterten Eindruck. Das könnte mehrere Gründe haben. Vielleicht meint Ihr, dass wir lügen, aber warum sollte es Euch dann interessieren, was wir sonst noch zu erzählen haben? Vielleicht war auch Euer Glaube nie so ausgeprägt, dass man ihn schwer erschüttern kann. Das wäre allein Eure Sache. Vielleicht ist das, was wir erzählt haben, allerdings gar nicht so neu für Euch? Möglicherweise habt Ihr in der Tempelbibliothek schon Schriften gelesen, die etwas ganz Ähnliches aussagen? Und Ihr habt ernsthaft in Betracht gezogen, dass nicht alles, was als ketzerisch gilt, erlogen ist? Dann wüsstet Ihr vielleicht sogar schon, wo Ihr in der Bibliothek suchen müsstet ...“
Tork Emadas Augen verengen sich erneut zu schmalen Schlitzen. Zunächst ist er versucht, den seltsamen, hageren Mann mit „Hütet Eure Zunge!“ anzuherrschen, doch dann überlegt er es sich anders. Diese beiden stellen sich gar nicht so ungeschickt an. Zwei Fremde, denen keine Verbindung zum Tempel nachzuweisen sein wird. Eventuell kann man sie für eine besondere Aufgabe einspannen? Langsam öffnet er die Augen wieder. „Nun ...“, beginnt er gedehnt, „nehmen wir einmal an, irgendetwas von alledem träfe zu. Ich sage nicht, dass es so ist, aber ich will mich auf Eure Mutmaßungen einlassen. Was, wenn es so wäre?“
Glance und Lurekar sehen einander an. Beiden ist klar, dass es hier nicht um reine Hypothesen geht. „Das müsstet Ihr mit Euch ausmachen.“, entgegnet der Musiker gleichmütig, „Mögliche Verwicklungen innerhalb der Priesterschaft gehen uns nichts an und interessieren uns auch nicht. Unser Ziel liegt sicherlich weit von Rechem entfernt, und wie schon gesagt: Wir würden aufbrechen, sobald wir die Informationen haben, die wir brauchen. Es gibt nichts, was uns in dieser Stadt hält.“
Der dunkel gekleidete Priester nickt vorsichtig. „Gut. Nehmen wir einfach mal an, ich wüsste eine Stelle in der Bibliothek, an der weitere Informationen zu finden sind, käme aber nicht einfach so heran, weil sich der Schlüssel dazu an einem Ort befindet, der für mich schwer zu erreichen ist. Ihr habt beide offenbar eine magische Ausbildung genossen, die Euch bei der Suche nach dem Schlüssel von Vorteil wäre. Könntet Ihr Euch unter diesen Umständen vorstellen, mir den Schlüssel zu besorgen?“