Für einen kurzen Moment verschlägt es dem Alten die Sprache. Doch dann sprudelt es glücklich aus ihm heraus:

"Das sind genau meine Worte, das versuche ich den Kollegen hier schon seit Ewigkeiten klarzumachen! Es kommt nicht darauf an, nur das Niedergeschriebene zu lesen und für seine eigenen Zwecke anzuwenden, zum Beispiel um junge Mädchen zu beeindrucken, den eigenen dicken Bauch zu kaschieren oder besonders billig an wertvolle Waren zu kommen! Nein - wer die Bücher wirklich studiert und auch das liest, was nicht offensichtlich niedergeschrieben wurde, was sozusagen zwischen den Zeilen verborgen ist, der wird schnell begreifen, das wahre Macht nicht aus ihrer Anwendung entsteht, sondern in ihrem Verzicht! Aber die jungen Leute von heute sind einfach zu hastig, verschlingen die Bücher mit den Augen, ohne die versteckten Warnungen zu erkennen geschweige denn zu verstehen..." Erschöpft nach diesem zusammenhängenden Vortrag hält der Greis kurz inne und schnauft atemlos.
"Jaja, früher war einfach alles besser!" fügt er seufzend hinzu ohne zu ahnen, dass er damit die ironischen Gedanken des Schauspielers fast wörtlich wiedergibt. Einen kurzen Moment taucht in seinen trüben Augen ein sehnsuchtsvoller Ausdruck auf, doch dann schüttelt er kurz sein greises Haupt. Zum Glück für die beiden ungebetenen Gäste scheint er die Bemerkung des Schauspielers über Edwina entweder überhört oder bereits wieder vergessen zu haben. Normalerweise ließe sich der Alte keine Gelegenheit entgehen, eine seiner bei Lehrern wie Schülern gleichermaßen berühmten wie gefürchteten Anekdoten zum Besten zu geben. Doch das Interesse der beiden Besucher an dem von den Priestern entwendeten Buch hat den durch Alter und magischer Hintergrundstrahlung gebildeten Vorhang aus Verwirrung und Realitätsverlust für einen Moment gelichtet und dem durch das Desinteresse seiner Kollegen jahrelang angestautem Mitteilungsbedürfnis ein längst überfälliges Ventil geöffnet.

"'Reise zur Residenz der Gottgleichen' ist das ungewöhnlichste Buch, das ich jemals in der Hand hielt." beginnt er mit klarer und fester Stimme. "Viele Bücher weisen eine Sicherung auf, die Unbefugten das Öffnen versagen, doch selbst einige der zweifelos gefährlichsten Bücher besitzen keinen vergleichbaren Schutz wie dieses. Wir fanden es in einem zugemauerten, längst vergessenen Gewölbe unterhalb der alten Bibliothek. Wir hatten 'Murfis Almanach der wirklichen und tatsächlichen Gesetzmäßigkeiten' erstehen können - natürlich nicht das Original, das ja voller Fehler und ungewollter Absonderlichkeiten ist, sondern nur eine Abschrift - und dieses Werk umfasst ja immerhin 5067 Bände. Wir erweiterten also die Bibliothek, wie wir es immer getan hatten: Da nach oben und zu den Seiten kein Platz mehr war, gingen wir nach unten. Und dabei stießen wir eben auf jenes Gewölbe, das nichts weiter enthielt als ein halbes Dutzend Bücher, darunter eine sehr seltene Ausgabe der 'Illustrierte Alchimie der Zwerge'. Und eben die 'Reise zur Residenz der Gottgleichen'. Ich erkannte sehr schnell, dass jenes Buch das wertvollste von allen war. Es ist ein Unikat, müsst ihr wissen. Das Original. Inzwischen weiß ich, dass das Siegel noch niemals gebrochen wurde - es gibt also keinerlei Abschriften dieses Buches. Nun, Rechem hat nicht die größte Bibliothek dieser Welt, aber wo immer ich auch fragte - ein solches Buch war unbekannt. Ich konnte den Titel verhältnismäßig schnell entziffern, obwohl die Runen schon uralt und längst vergessen sind. Doch das Siegel... ich erkannte, dass ein gewaltsames Aufbrechen des Siegels zur vollkommenen Zerstörung des Buches führen würde. Diesbezüglich waren die Muster und Linien eindeutig, so verwirrend sie auch sonst sein mochten. Viele Jahrzehnte verbrachte ich mit der Untersuchung und dem Studium des Siegels, ohne merklich voranzukommen. Leider erhielt ich keinerlei Unterstützung von den anderen Magiern der Akademie. Sie hatten schnell das Interesse an dem Buch mit dem nichtssagenden Titel verloren, nachdem sie die anderen fünf Bücher untersucht hatten - nun, diese versprachen das Aufhalten des Alterns und anderen Firlefanz. Vermutlich lag's daran, dass bei einigen der anderen bereits der Knochenmann vor der Tür stand und sie deshalb andere Prioritäten setzten."

Der Greis hält kurz inne und atmet kurz durch. Seine Augen blicken ins Leere, und fast fürchten seine beiden Gäste, dass der Moment der Klarheit wieder verfliegen könnte und der Alte erneut in sein Gebrabbel verfällt. Doch schliesslich fährt er fort:

"Es gab Hinweise auf schwarze Magie, doch es blitzten auch Fäden auf, die eindeutig nicht arkanen Urspungs waren. Es ergab alles keinen Sinn, und ich konnte mir lange Zeit keinen Reim darauf machen. Alle Recherchen über ähnliche Versiegelungen führten ins Leere - etwas Vergleichbares war nicht bekannt. Schliesslich geriet mir durch Zufall ein uraltes Manuskript in die Hände. Wir erachteten die nur wenige Seiten starke Abhandlung für weniger wertvoll, da sie aus der Hand eines Mönches stammte und damit eindeutig spirituellen Urprungs war. Der Text beschäftigte sich mit der Verbindung von Schwarz und Weiß, stellte ein Prinzip des Gleichgewichts auf, in dem die Begriffe Gut und Böse negiert wurden und nebeneinander und vollständig ebenbürtig auf eine gemeinsame Ebene gehoben wurden. So theoretisch und unwichtig dieser Text auch schien - er war der Schlüssel für das Siegel! Ich triumphierte, hatte ich das Rätsel doch endlich gelöst. Doch in Wahrheit..."
Der alte Mann wirkt plötzlich zerknirscht und niedergeschlagen.
"...in Wahrheit war mir damit das Öffenen des Buches verwehrt. Ich wäre niemals in der Lage, das Siegel zu brechen, ebenso wie kein anderer aus der Akademie - selbst, wenn das Buch noch hier wäre! Was aber nützt ein Buch, wenn man es nicht öffnen und lesen kann? Somit wurde es vom wertvollsten Besitz der Bibliothek zum Unwichtigsten. Meine einzige Genugtuung ist, dass die Priester, die das Buch gestohlen haben, ebensowenig damit anfangen können wie ich. Selbst wenn es ihnen gelingt, das Siegel zu entschlüsseln - was ich stark bezweifel -, sie wären nicht in der Lage, es zu brechen, ebensowenig wie wir, und werden das verborgene Wissen des Buches niemals erwerben. Ihr seht also - ich kann euch nicht viel helfen. Das Buch ist nicht für unsereins bestimmt, ein solches Siegel lässt sich nicht brechen - obwohl ich natürlich hoffe, dass es uns eines Tages möglich sein wird. - Ach, wenn ich daran denke, wieviele Antworten auf große Mysterien sich dort verbergen mögen! Was für großartiges Wissen muss ein Buch enthalten, das solcherart gesichert ist! In diesem Buch lesen zu dürfen - das muss die größte Erfüllung sein..."