Fassungslos starrt Selmia Stoerrebrand der Menge noch lange hinterher. Ihre Enkelin - tot, ihre Familie - nicht länger unter ihrer Kontrolle, die Stadt - in Aufruhr. Düstere Zukunftsvisionen von brennenden Läden, niedergerissenen Hütten und gewalttätiger Plünderer huschen durch ihren Kopf. Sie muss retten, was zu retten ist!
Mit wehendem Gewand wendet sie sich um und eilt zurück ins Haus. Nur ihre älteste Tochter Salda steht noch mit bleichem Gesicht in der Eingangstür. Es herrscht eine beklemmende Stille, als sich die Blicke der beiden Frauen in tiefer Verzweiflung treffen.
Lieschen ist inzwischen von der stämmigen Köchin und zwei weiteren Dienstmädchen in einen kühlen Nebenraum gebracht worden. Ihre Freundin Traude rückt die Kleider der Toten sorgfältig zurecht und beginnt gemäß den Traditionen des Begräbnisrituals leise murmelnd ein langes Band in einem komplexen Muster um die Hände und Arme des Mädchens zu schlingen, um sie so auf den Übergang in die andere Welt vorzubereiten. Tränen tropfen immer wieder auf Lieschens Obergewand und hinterlassen kleine, dunkle Flecken. Die Blicke der übrigen Angestellten gehen stier ins Leere; jeder vermeidet es, den anderen anzusehen. Vertieft in ihre traurige Pflicht nimmt Traude nicht wahr, dass Selmia und Salda den Raum betreten, kurz im Gebet verharren und sich dann leise in das Privatgemach des Familienoberhauptes zurückziehen. Heute scheucht sie niemand zurück an die Arbeit.
"Oh, nein, die arme Sanibanda!", jammert Salda, nun wo sie sich vor den Ohren der Dienerschaft sicher fühlt, und bricht in wildes Schluchzen aus. "All dieses Blut! Wer hat nur den Mörder ins Haus gelassen? Und wo sind nur diese treulosen Diener hin. Ich werde sie auspeitschen lassen, weil sie nicht hier geblieben sind! Wir müssen das Geschäft bewachen, die Vorräte in die Kellerverstecke bringen, Lebensmittel einkaufen, das Haus verriegeln, ..."
"Gute Salda", fällt Selmia der sich ins Hysterische steigernden Tochter ins Wort. "So beruhige dich doch erst einmal. Leute auszupeitschen hat noch in keiner Notlage geholfen. Wollen wir lieber hoffen, dass sie alle unbeschadet von ihrem kleinen Ausflug zurückkehren. Vielleicht gelingt es ihnen ja wirklich, die Wachen dazu zu bringen, die Aufklärung der Morde mit etwas größerem Interesse zu betreiben. Ich habe großes Vertrauen in Feldwebel Dranner", spricht sie mit einer Ruhe, die sie selbst erstaunt, auf Salda ein und streichelt dieser über den Rücken.
Die alte Dame atmet mehrmals tief durch und versucht die Lage zu analysieren. Sie war nicht zum Oberhaupt einer großen Händlerfamilie geworden, weil sie leicht in Panik geriet! Bedächtig schreitet sie ans Fenster und öffnet die Läden. Vielleicht beruhigte sich ja auch alles ganz schnell wieder, vielleicht ...
Die dunklen Rauchsäulen, die sich über der Stadt erheben, springen sie an und stechen ihr wie ein eisiges Messer in die Brust. Sie bemerkt, wie ihr Herz zu flattern beginnt und ihre Hände zittern. Für einen kurzen Moment schließt sie die Augen und bittet Undar um Kraft für die nächsten Stunden und Tage.
Mit Schwung wirft sie die Läden wieder zu. Die zusammengesunkene Salda blickt erschreckt auf, wird von ihrer Mutter jedoch mit einem Lächeln besänftigt. Nach diesem kurzen Moment der Schwäche ist sie wieder ganz die kühle Strategin. Nun weiß sie, woran sie ist und was als nächstes zu tun ist.
"Nun gut, Salda. Du hast gerade genau die richtigen Vorschläge gemacht. Trommle die restlichen Hausangestellten zusammen und verteile die Aufgaben. Ich selbst bringe die Papiere, Urkunden und Verträge in den geheimen Nebenraum im Keller. Ihr räumt die Waren aus dem Verkaufsraum und dem Lager im Hofe in die große Steinhöhle im Keller und versiegelt danach den Eingang. Nehmt zuerst die feinen Stoffe, die Schmuckstücke und die exotischen Gewürze. Ach, du weißt selbst, was am wertvollsten ist! Dann holt aus dem Garten alles Obst und Gemüse, das schon geerntet werden kann. Gut, dass die Pfirsich- und Apfelernte in diesem Jahr so reichlich war und schon eingelagert ist. Füllte jeden verfügbaren Eimer mit frischem Wasser und bringt auch dieses in den Keller!".
Wieder einmal verflucht Selmia, dass sich im Keller kein Brunnen befindet. Dafür zahlte es sich nun vielleicht aus, dass sie seit langem ein gut sortiertes Vorratslager für Zeiten wie diese im Keller führte. Sie dankt Undar für den kühlen, höhlenreichen Untergrund, in dem sich die Lager so leicht anlegen ließen, bittet sie aber gleichzeitig inbrünstig, dass noch nicht der Tag gekommen sein möge, an dem sie dieses Versteck wirklich braucht.
Der befehlende Ton der Älteren reißt Salda aus ihrer Lethargie. Sie blinzelt die Tränen aus den Augen und schaut Selmia hilflos an.
"Nun mach schon, Salda!", redet ihr Selmia zu. "Schlimmer als damals, als die Alchimisten beim Versuch, aus Schwefel und Kohlenstaub Gold zu machen, das halbe Viertel abbrannten, wird es schon nicht werden!", scherzt sie mit einer Zuversicht, die sie nicht empfindet. Sie schiebt ihre Tochter durch die Tür in den Flur und eilt selbst ins Kontor, um sich an die Durchsicht der Papiere zu machen. Den Gedanken, die Elfen durch einen Boten zu warnen, verdrängt sie schnell wieder. Wen soll sie schicken? Und außerdem ist auch so schon genug zu erledigen!
Last edited by LuSer; 03/02/06 12:42 PM.