„Genug geschwafelt!“ unterbricht der Rotbärtige unten auf dem Kai inzwischen aufbrausend die stumme Einigung zwischen Dranner und dem jungen Gyldenstern. Zu lange schon hatte er sich nur mühsam zurückgehalten, doch nun ist seine Beherrschung restlos aufgebraucht.
„Schöne Worte, Mann!“ faucht er den Feldwebel an. Die Menge hält kollektiv den Atem an. Hatte der Rotbärtige da tatsächlich eben Feldwebel Dranner „Mann“ genannt?! Sicher würde dieser dem Ungezügelten gleich eine Lektion verpassen!
„Wie erklärst du dir das da, he?“ Anklagend weist der vor Zorn schäumende Mann auf das Elfenschiff. Die Blicke der Menge richten sich auf das Schiff. In den letzten Minuten hatte sich ihre Aufmerksamkeit auf Dranner und die unmittelbaren Ereignisse am Kai gerichtet. Das Schiff mitsamt seiner elfischen Besatzung war darüber fast schon in Vergessenheit geraten.

„Die Elfen haben unsere Leute als Sklaven auf ihr Schiff verschleppt!“ schreit der Rotbärtige aufgebracht. Der in ihm brodelnde Zorn verzerrt den Klang seiner Stimme fast zur Unkenntlichkeit. „Um sie zu missbrauchen und irgendwelche… Dinge mit ihnen anzustellen!“

„Interessanter Hinweis!“ kommentiert Dranner gelassen, ohne sich von der Entgleisung des Rotbärtigen in irgendeiner Weise berührt zu zeigen. Die Umstehenden wenden sich wieder ihm zu.
„Für mich sieht’s ganz so aus, als hättet ihr in eurem Überschwang ein paar aufrechte Rechemer Bürger ins Wasser gestoßen und die Elfen hätten den Unglücklichen herausgeholfen, um das Schlimmste zu verhindern. Sieht für mich nicht nach Versklavung aus."
Die Art, wie Dranner die Worte betont, lässt nur eine Auslegung der Schuldfrage zu. Und erneut dämmert es den Zuhörern, dass es nicht die Elfen sind, gegen die sich die unausgesprochene Anklage richtet.
"Und ich will hier daran erinnern, dass es sich um das Wasser des Hafenbeckens handelt." fährt Dranner fort. "Hoffentlich hat keiner eurer Freunde zuviel... Wasser – oder Schlimmeres – schlucken müssen! Ihr alle wisst, dass manchmal kleine und undefinierbare Häufchen im Wasser schwimmen, von denen ich gar nicht wissen will, was sie sind!“

Ein Grinsen zeigt sich auf vielen Gesichtern. Ja, das Wasser des Hafenbeckens gilt alles andere als sauber. Immerhin landete der größte Teil des Unrats hier, und die unterirdischen Gänge der Kanalisation enden letztendlich alle im Hafenbecken.

„Nun, wahrscheinlich habt ihr euch nichts weiter dabei gedacht, als ihr sie zu ihrem Bade aufgefordert habt. Aber aus mir unerklärlichen Gründen hatte irgendwie keiner von euch Interesse, den Bedauernswerten zu helfen. Tja, wie es scheint, könnt ihr ausgerechnet von jenen lernen, die ihr verdammt!“

Der Feldwebel wirft einen langen Blick auf das Schiff der Elfen und nickt einem der an Deck Stehenden kurz zu, darauf bedacht, dass der Mob die Geste mitbekommt. Dann wendet er sich wieder den Umstehenden zu.

„Was ist bloß los mit euch, Leute?“ fragt er in anklagendem Tonfall und schaut den Leuten direkt in die Augen. Das Grinsen ist von den Gesichtern der Umstehenden verschwunden und betretenes Schweigen herrscht. Erneut kommt eine leichte Bewegung in die Menge, als jeder versucht, den Blicken des Feldwebels zu entgehen und die vorne Stehenden möglichst unauffällig in den Hintergrund drängen.

„Schande über uns, dass wir tatenlos zuschauen, während unser eigen Fleisch und Blut direkt zu unseren Füßen verzweifelt um sein Leben kämpft! Die Elfen waren nicht so zimperlich und haben unsere Leute aus dem Wasser gefischt, um sie vor dem Ertrinken oder einem noch schlimmeren Unheil zu bewahren! Ich habe ziemlich genau gesehen, dass einige vom Schiff sogar ins Wasser gesprungen sind – und falls ich es noch nicht erwähnt haben sollte: Dies ist das Hafenbecken, und das Wasser besteht wahrscheinlich nur zur Hälfte aus Wasser!“

Dranners Worte wiegen schwer. Die Elfen zu beschimpfen war eine Sache, selbst wenn sie nicht richtig gewesen sein sollte. Aber die eigenen Leute im Stich zu lassen – das war bitter! Und die Schuld wurde gewiss nicht leichter dadurch, dass die Unglückseligen ja immerhin gerettet wurden. Schließlich wurden sie nicht von ihnen gerettet sondern ausgerechnet von jenen, die wohl die besten Gründe dafür gehabt hätten, ihnen nicht zu helfen.

„Aber sie haben sie nur auf ihr Hexenschiff geholt, um Sklaven aus ihnen zu machen!“ heult der Rotbärtige in einem letzten verzweifelten Versuch, sich Gehör zu verschaffen.
Ein kurzer Blick auf die Gesichter der Umstehenden genügt Dranner jedoch um zu erkennen, dass der Mob schon längst den Worten des unbelehrbaren Rädelsführers keinen Glauben mehr schenkt.

„Unsinn!“ meint er daher nur. „Jeden Moment werden die Elfen den Laufsteg auslegen und die Geretteten an Land lassen!“ Er redet nun lauter, als nötig wäre.
Hoffentlich verstehen sie auf dem Schiff, was ich sage, und hoffentlich reagieren sie entsprechend! denkt er bei sich. Gütige Götter! Wenn die Elfen jetzt nicht mitspielen, dann stecke ich ganz schön in der Sch...! Dabei könnte man es ihnen nicht mal verübeln! So ein paar Geiseln gewähren schon eine gewisse Sicherheit.
Trotz seiner skeptischen Gedanken fährt er laut mit überzeugender Stimme fort:

„Sie haben erst unseren Freunden die nötigste Hilfe zuteil werden lassen und hatten daher noch keine Gelegenheit, die Planke auszulegen. Aber wenn unsere Leute hier herunterkommen, dann will ich, das wir unser Versäumnis wieder gut machen!“
Beschäftige sie, lenke sie ab! Egal ob sinnvoll oder nicht!
„Du und du und du! Schnappt euch jeder ein paar Frauen oder Männer und organisiert warme Decken! Ihr beide und noch du und du auch – halt, hiergeblieben! – ihr geht in den Lustigen Klabautermann und besorgt heiße Getränke! Und wenn der Wirt fragt, wer euch schickt und bezahlt werden will, dann…“
„Nicht nötig.“ unterbricht ihn eine heisere, verlegene Stimme aus dem Hintergrund. „Ich bin hier…“
„Ah, Herr Brandwinn, ich hatte Euch gar nicht gesehen! Dann übernehmt ihr diesen Teil. Bitte.“ Trotz des letzten Wortes kommt die Aufforderung des Feldwebels weniger einer Bitte als vielmehr einer Anweisung gleich, die keinen Widerspruch duldet. Der dicke Wirt des Lustigen Klabautermanns nickt bekümmert, gibt den anderen Angesprochenen ein Zeichen und macht sich mit ihnen auf den Weg in die nahegelegene Hafentaverne.

„Herr Doktor!“ fährt Dranner fort, „es wäre schön, wenn Ihr…“
„Ich verstehe schon.“ entgegnet der Angesprochene und zögert kurz. „Ich gehe nur schnell... äh... meine Tasche holen...“

Dranner nickt bestätigend, als er sich behutsam am Arm berührt fühlt. Als er sich umwendet, blickt er in das verstörte Gesicht eines jungen Mädchens, kaum älter als sechzehn Sommer, das ihm vage bekannt vorkommt. Verzweifelt sucht er in seinem Gedächtnis nach der Person, der dieses Gesicht gehört.
„Ah, äh... du bist die Tochter von Hildebrand, nicht wahr? Brutwind, stimmts?“
„Gutlind.“ korrigiert das Mädchen schüchtern. „Herr Dranner, bitte... mein Vater, er ist auch ins Wasser gefallen! Ich... es... es tut mir so leid! Ich habe nicht, ich meine, ich, ich wollte doch nicht... ich will auch helfen!“

Hildebrand, so erinnert sich Dranner, war einer jener Wächter, denen er vertraute, und den er deswegen zum Hafen beordert hatte. Dass ausgerechnet seine Tochter im Mob mitgelaufen war, mochte sich jetzt als äußerst günstiger Umstand herausstellen – falls der Mann gerettet worden war! Die Rüstungen der Stadtwache konnten selbst einen hervorragenden Schwimmer in kürzester Zeit in die Tiefe ziehen.
„Keine Sorge, deinem Vater geht es sicher gut!“ erwidert er und versucht, möglichst optimistisch zu klingen. „Die Elfen haben ihn aus dem Wasser gefischt, und sie haben begnadete Heiler und jeden Moment wird er von ihrem Schiff spazieren! Du wirst sehen – alles wird gut!“

Wenn die Rädelsführer ihre Absicht aufgeben! denkt er bei sich und wirft dem inmitten einer kleinen Gruppe wütender Unbelehrbarer stehenden Rotbärtigen einen argwöhnischen Blick zu.