Weit entfernt von den turbulenten Ereignissen, die das stolze Rechem an den Rand eines blutigen Bürgerkrieges geführt haben, sitzt der Priester seit Stunden still im dürftigen Windschatten der umgestürzten Bäume. Das Hochgefühl, das er noch kurz nach der Reise empfunden hatte, ist inzwischen fast gänzlich erloschen. Trotzdem fühlt sich der heilige Mann noch immer erstaunlich frisch und ausgeruht – zumindest bei Berücksichtigung der hinter ihm liegenden Strapazen.
Das also war das sagenhafte Andúneth, Insel der Elfen und berühmt für seine sanfte Schönheit. Es gab Stimmen, die diesen Ort als den irdischen Garten der Freuden bezeichneten, als das Paradies auf Erden, in dem Milch und Honig fließen sollten. Von so zauberhafter Schönheit sei die Insel, dass sie einem Menschen den Verstand rauben könnte, und wer auch nur einen Fuß auf ihre weißen, lichtumfluteten Strände setzten würde, sei für alle Ewigkeiten in ihrem Zauber gefangen, hieß es. Der Priester gibt zwar nicht viel auf solche Reden, die zweifellos der überschäumenden Fantasie der Bänkelsänger und Skalden entsprungen sind, doch er steht den Elfen und ihrer Magie durchaus mit Misstrauen gegenüber. Die Meinung vieler seiner Brüder, die die elfischen Zauber als gottlose Hexerei betrachten, teilt er in dieser Form allerdings nicht.
Der atemberaubende Augenblick, in dem die aufgehende Sonne ihre Strahlen durch einen Riss in der Wolkendecke geschickt und einen Teil der Schönheit der Insel offenbart hatte, war schon längst vorüber. Es war nur ein kurzer Moment gewesen, zu wenig, um einen umfassenderen Eindruck zu erlangen, doch es hatte gereicht, um wenigstens einen Teil des Rufes der Insel zu bestätigen. Sie war wahrhaftig ein Kleinod von schier überirdischer Schönheit, ein Ort der Ruhe und des Friedens. Sicher waren die Gerüchte um den Verlust des Verstandes bei ihrem Anblick nur erdichtet, doch die Harmonie der Landschaft, das wundersame Farbenspiel des Lichtes und das Gefühl der Geborgenheit mochten durchaus zu längerem Verweilen einladen. Anders als die vielen haltlosen Behauptungen geht diese Wirkung jedoch nicht auf einen Elfenzauber zurück, sondern wird allein durch die natürlichen Gegebenheiten bestimmt – dessen ist sich der Priester sicher. Immerhin mochte der vielgerühmte Einklang, in dem die Elfen mit ihrer Umwelt lebten, mit ein Grund dafür sein.
Doch nun war von dieser Schönheit und der Harmonie nichts mehr zu spüren. Der Sturm, hatte sogar noch an Stärke zugenommen und geht längst über das hinaus, was einen gewöhnlichen Sturm ausmacht. Mit alle seiner Kraft wirft er sich auf das Eiland. Schmutzig-weiße Schaumberge auftürmend donnert Welle auf Welle des aufgepeitschten, stahlgrauen Ozeans gegen den Strand und die Klippen, zermalmt Stein und Fels – und als sei diese Vernichtung nicht genug, reißt er die Trümmer hinab in die Tiefe. Zornig fährt der Wind in die ausladenden Pinien, rüttelt mit unglaublicher Gewalt an Ästen und Stämmen, und so mancher stolze Baum zerbirst unter dem Ansturm wie ein dünnes Holz. Die Reste der zertrümmerten, regelrecht auseinander gerissenen Bäume geben dem ehemals lichten, lieblichen Hain schon jetzt ein chaotisches und bedrohliches Aussehen. Und noch immer nimmt der Sturm zu. Dies war kein normaler Sturm mehr, dies war ein Aufbegehren der Elemente gegen alles, was schön und von Bestand war, und das ungezügelte Wüten von Wind und Wasser hat den Anschein, als wolle die Natur mit all ihrer elementaren Kraft den Flecken Land hinwegspülen, vom Angesicht dieser Erde vertilgen und in die unergründlichen, dunklen Tiefen des Ozeans hinabziehen.
Nein, die Harmonie hier war längst von dem unbarmherzigen Wind hinweggefegt und dem ölig wirkenden Wasser hinfortgespült worden. Dieser Ort des Friedens ist nun von Verwüstung und Zerstörung geprägt, und die Legende um Andúneth ist kurz davor, zerstört zu werden. Nachdenklich blickt der Priester dem Toben der Naturgewalten zu. War dies der Beginn vom Ende der Welt? Würde es hier seinen Anfang nehmen, auf der Insel der Elfen? Sollte hier die letzte Schlacht dieser Zeit geschlagen werden? War es das, warum Undar ihn hierher geführt hatte – um an der Seite der sterblich gewordenen Götter gegen Vergessen und Untergang zu kämpfen, hier, an diesem Ort, der als Bastion der Harmonie und des Friedens galt? Es würde viele geben, die den Untergang Andúneths als gerechte Strafe für die Arroganz der Elfen und ihre geringe Hilfsbereitschaft gegenüber den anderen Rassen begrüßen würden. Doch wie man den Elfen auch gegenüberstehen mochte – die Gelehrten waren sich einig: Das Wissen der Elfen war unverzichtbar für den Fortbestand dieser Welt. Und ohne die Elfen wäre die Welt um vieles ärmer, und sei es nur die Legende von perfektem Einklang mit der Umwelt. Und war nicht auch eine Elfin und ein Elf bei den Abenteurern dabei gewesen, um dieser Welt in ihrer schweren Stunde beizustehen?
Der Priester tastet nach dem sicher verborgenen Stein, der ihm von Undar selbst geschickt und in den Tiefen des Berges ausgehändigt worden war. Er konnte dem Sturm nicht Einhalt gebieten, doch angesichts des entmutigenden Anblicks des elementaren, unaufhaltsam scheinenden Vernichtungswerkes spendet ihm die Berührung des warmen Kristalls Trost und gibt ihm ein wenig Hoffnung zurück. Hoffnung darauf, dass dies noch nicht das Ende bedeuten mochte, sondern vielleicht nur einen neuen Anfang.