Chumana hat das Gefühl, schon ewig diesen finsteren Gang entlangzulaufen. Ein magischer Lichtschein, der sie begleite, gaukelt ihr an den Wänden um sie herum seltsame Schatten vor. Immer wieder rutschen ihre bloßen Füße auf dem nassen Steinboden aus und sie hat Mühe, nicht hinzufallen. Die seltsamen Schattenspiele an den Wänden verwirren sie. Das ist doch das Gesicht ihrer Mutter und dort, der sich windende Leib von Chuma! Erschrocken zuckt sie vor dem Bild der zerschmetterten Gliedmaßen von Yamka zurück. Nur mit Mühe kann sie einen Sturz verhindern, als ihre Füße bei der heftigen Bewegung wegrutschen. Gleich darauf strauchelt sie erneut, als das hasserfüllte Gesicht Unas in den Schatten auftaucht. Instinktiv will sie nach ihrem Dolch greifen, aber da ist nichts. Weder ihre Ausrüstung noch ihre Kleidung hat sie bei sich. Völlig ungeschützt ist sie Witterung und Feinden ausgeliefert. Vorsichtig geht sie weiter, versucht die seltsamen Schatten zu ignorieren.

Plötzlich gabelt sich der Weg vor ihr. Unschlüssig bleibt sie stehen. Beide Wege liegen in absoluter Finsternis vor ihr und sie hat nicht die geringste Ahnung, welchen von beiden sie nehmen soll. Schon will sie umdrehen, weil sie sich nicht entscheiden kann, aber hinter ihr ist auf einmal nur noch eine massive Wand. Der Weg zurück ist verschlossen. Vorsichtig geht sie zwei Schritte in den rechten Gang hinein. Decke und Wände dieses Ganges sind alt und bröckelig. Jeden Moment rechnet sie damit, dass ihr ein Stück der Decke auf den Kopf fällt oder gar der ganze Gang einstürzt. Spinnen haben unzählige kleine Kunstwerke gebaut und lauern darin auf ihre Beute. In den Spalten wachsen Algen und Moose, bevölkert von unzähligem Insekten. Über ihr flattern Fledermäuse und rings um sie herum huschen kleine Nager. Als einige kleine Steinchen die Wand herunterrieseln, tritt sie schnell wieder zurück.

Nun geht sie probeweise zwei Schritte in den linken Gang hinein. Der Gang besteht aus einem völlig ebenmäßigen Rundbogen, der aus glattem Stein gemeißelt ist. Nicht der kleinste Riss ist in dem Stein zu finden, nur hin und wieder fließt ein kleines Rinnsal einer dunklen Flüssigkeit die Wand hinunter, welche den Boden etwa einen Fingerbreit bedeckt. Nichts wächst hier, nichts regt sich, ja, nicht einmal die Schatten tanzen hier. Neugierig streckt sie die Hand aus und berührt die Flüssigkeit, die an der Wand hinunterfließt. Sie ist zähflüssig und ein wenig klebrig. Als sie die Hand zurückzieht, ist sie rot. Schlagartig wird ihr klar, worum es sich handelt. Blut, das ist Blut an den Wänden und auf dem Boden. Unbewusst versucht sie sich das Blut an den Kleidern von den Fingern zu wischen. Doch da sie gar keine anhat, verteilt sie nur die klebrige Flüssigkeit auf ihrer Haut. Das antrocknende Blut juckt unangenehm und das Gefühl, jetzt bereits eine Handbreit in Blut zu waten, erzeugt einen unangenehmen Druck in ihrem Magen.

Schon will sie zurückgehen, als sie weiter hinten im Gang auf einmal Licht bemerkt. Dort steht eine Person. Chumana kneift die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Das ist doch Una! Und eine äußerst zufrieden dreinschauende Una noch dazu. Ein Zustand, der höchst selten bei ihr ist. Dann treten zwei weitere Gestalten in den Lichtkreis. Eine ihr unbekannte Frau, die ein kleines Kind hinter sich herschleift. Die Züge des Kindes sind seltsam verschwommen, die der Frau dafür umso klarer zu erkennen. Sie hat die besten Jahre bereits hinter sich. Ihre blonden Haare sind an vielen Stellen bereits von weißen Strähnchen durchzogen. Sogar ihre Augen kann Chumana klar erkennen. Olivfarben, stechend und kalt schauen sie zu ihr herüber. Das Gesicht der Frau wirkt verkniffen und abweisend. Unmutsfalten haben sich um Mund und Augen sowie auf der Stirn tief eingegraben und ihr ein abstoßendes Äußeres verliehen. Die freie Hand der Frau ist um Unas uralten Ritualdolch geschlossen. Schaudernd blickt Chumana auf die Waffe, mit der ihre Mutter ermordet wurde. Mit einem bösen Lächeln in ihre Richtung hebt die fremde Frau den Arm und lässt den Dolch dann blitzschnell auf den kleinen Körper des Kindes hinabfahren. Und wie damals bei ihrer Mutter kann sie nur fassungslos und innerlich erstarrt zusehen, wie dieses verbotene, uralte Ritual durchgeführt wird. Geschockt schaut sie in das kalt lächelnde Gesicht der Frau, die immer noch zu ihr herüberblickt und jetzt langsam auf sie zugeht.

Mit einem Aufschrei taumelt sie zurück, durch den jetzt kniehoch mit Blut gefüllten Gang. Kopflos rennt sie in den anderen, baufälligen Gang hinein. Bloß weg von dieser Fremden und Una. Lange rennt sie durch den dunklen Tunnel, begleitet von dem Rhythmus ihres heftig schlagenden Herzens. Immer wieder gerät sie dabei ins Stolpern und irgendwann kann sie sich nicht mehr halten und stürzt vornüber.

Die Zeit scheint viel langsamer zu vergehen, während sie den Boden auf sich zukommen sieht, unfähig irgendetwas zu tun. Doch kurz bevor sie mit dem Gesicht auf dem Boden aufschlägt, spürt sie, wie sie fest an beiden Armen gepackt wird und unsanft wieder auf die Füße gestellt wird. Verwundert schaut sie auf die beiden Männer neben sich.

„Da bist du ja endlich. Folge mir.“ Noch während Alrik diese Worte spricht, geht er weiter und verschwindet in der Dunkelheit des Ganges.

„Wir haben keine Zeit für solche Albernheiten.“ Stone verpasst ihr einen kräftigen Schubs weiter in den Gang hinein. Als sie sich umdreht, um ihn für seine Unhöflichkeit zu rügen, ist er verschwunden.

Langsam geht sie jetzt weiter den Gang hinunter. Ihr ist unbehaglich so allein und sie fühlt sich wehrlos. Sie wünschte, Alrik würde auf sie warten. Selbst die Gesellschaft dieses Groß Furtheimers wäre ihr lieber, als hier alleine durch die Dunkelheit zu stolpern.

Dann geht auf einmal jemand neben ihr. Eine unbekannte junge Frau, die sich sichtlich Mühe gegeben hat, sich als Mann zu verkleiden. Eine Weile gehen die beiden einfach schweigend nebeneinander her. Chumana ist froh, nicht mehr alleine durch den dunklen Gang zu wandern. Ja, sie genießt sogar die Gesellschaft ihrer schweigsamen Begleiterin, die ihr hin und wieder ein schüchternes Lächeln zuwirft.

„Ich weiß zwar nicht, wer du bist, aber ich bin froh, dass du hier bist.“ Chumana lächelt dem Mädchen neben ihr zu.

„Ja, es ist nicht leicht, auf sich allein gestellt zu sein und immer alles alleine regeln zu müssen“, das Mädchen schaut sie ernst an, „aber vielleicht muss man das ja gar nicht?“

Das Mädchen bleibt stehen und schaut Chumana noch einmal gedankenverloren an. Dann wird ihre Gestalt langsam durchscheinend und löst sich schließlich ganz auf. Verloren steht Chumana wieder alleine in dem endlos scheinenden Gang. Einen Herzschlag lang schaut sie noch auf die Stelle, wo das fremde Mädchen verschwunden ist, dann geht sie entschlossen weiter den Gang hinunter. Wenn sie ihre Probleme nicht alleine regeln will, müsste ja erst mal jemand da sein, der ihr hilft. Aber da war niemand. Sie ist, wie immer, allein. Einen Moment lang bleibt sie stehen, um zu lauschen. Sind da Schritte um sie herum? Dann geht sie kopfschüttelnd weiter. So ein Unsinn. Sie ist völlig allein. Oder sind da doch andere und sie kann sie nur nicht sehen?

„Alrik, Stone“, Chumanas Rufen ist kaum mehr als ein Flüstern, „seid ihr hier irgendwo?“ Lauschend geht sie weiter, aber nur das Schlagen ihres eigenen Herzens antwortet ihr.

Plötzlich ist der Gang verschwunden. Chumana steht auf einer Lichtung in einem dichten Laubwald. Die Sonne scheint warm und die Luft duftet lieblich nach Kräutern und Blumen. Die Vögel und Insekten geben ein wunderbares Konzert und eine außergewöhnliche Blumenpracht und bunte Schmetterlinge erfreuen das Auge. In der Mitte der Lichtung steht Glance und hält ein kleines blondes Mädchen im Arm. Die Augen des Mädchens sind mit einer schwarzen, klebrigen Masse bedeckt und sein Brustkorb ist aufgerissen. Glance wäscht mit einem Schwamm immer wieder über die verklebten Augen des Kindes und neben ihm sitzt Big Claw im Gras, umgeben von vielen kleinen Fleischbröckchen. Unermüdlich fügt sie die einzelnen Teile wieder zusammen und heilt sie mit ihren Händen. Fassungslos schaut Chumana auf die Szene. Was treiben die beiden da bloß? Eine ungeheure Wut steigt in ihr auf. Das will sie nicht. Zornig rennt sie auf die beiden zu, um sie von ihrem Tun abzuhalten, doch bevor sie sie erreicht, steht sie wieder alleine in dem dunklen Gang.

Frustriert schlägt sie mit den Fäusten gegen die Wand des Ganges. Sie will hier endlich raus. Der Schmerz der Schläge lässt sie langsam wieder ruhiger werden. Resigniert nimmt sie die Wanderung wieder auf. Irgendwo und irgendwann muss man hier doch rauskommen.

Eine ganze Weile läuft sie einfach vor sich hin, ohne auf ihre Umgebung zu achten, ohne zu denken. Sie funktioniert einfach nur noch und setzt einen Fuß vor den anderen. Dann fängt der Boden unter ihr auf einmal an zu schwanken. Unsanft landet sie auf allen Vieren und schaut sich verwirrt um. Sie steht auf einer seltsamen schwarzen Insel, etwa so groß wie das Schiff der Elfen, mitten im Meer. Dann erhebt sich der vordere Teil aus dem Wasser und sie rollt noch einige Meter über den rauen, rissigen Boden. Boden? Nein, das ist schuppige Haut. Und was sich da aus dem Wasser erhebt, ist...
Erstaunt schaut sie auf den Kopf des großen Drachen. Der öffnet das Maul und stößt eine gigantische Feuerlanze aus.
„Das war es dann,“ denkt Chumana. Doch außer dass sie die unglaubliche Hitze spürt, passiert ihr nichts. Anscheinend hat der Drache aufs Meer gezielt und nicht auf sie.
Plötzlich ist da etwas auf ihrem Kopf und zieht unsanft an ihren Haaren.

„Ist das nicht fantastisch? Schau dir Lus Bild an. Was für ein schönes und detailliertes Kunstwerk.“

Die kleine Fee flattert jetzt um Chumanas Kopf herum. Immer noch beunruhigt, schaut sie in die Richtung, die Rei ihr zeigt. Dort erhebt sich über dem Meer eine fantastische Landschaft mit Bergen, Bäumen, Blumen und Tieren, gestaltet aus Wasserdampf. Und die Fee hat Recht, es ist fantastisch anzusehen. Begeistert schaut sie zu dem Drachen hoch. Dieses Ungetüm soll der kleine Lu sein?

„Da rennst du durch die Gegend, um Informationen zu sammeln, und weißt nicht mal die einfachsten Dinge. Du musst noch viel lernen, Schlangenfreundin. Aber jetzt musst du deinen Weg fortsetzen“. Lu packt Chumana mit der Pfote und hebt sie vorsichtig vor sein Maul. „Hier geht es lang, na los, vertrau mir!“

Unbehaglich schaut Chumana auf das weit geöffnete Maul des Drachen. Der heiße Atem weht ihr entgegen und die riesigen Zähne ragen bedrohlich vor ihr auf. Da soll sie rein? Nie im Leben!

„Das mache ich ganz bestimmt nicht“, trotzig verschränkt Chumana die Arme vor der Brust.

„Doch, das machst du“, Rei gibt ihr einen kräftigen Schubs und bevor Chumana noch dazu kommt, sich zu wundern, woher ein so kleines Wesen so viel Kraft hat, fällt sie in das Maul des Drachen. Und findet sich gleich darauf in dem alten Gang wieder.

„Na toll, Lu. Dir vertrauen. Jetzt bin ich auch nicht weiter als vorher.“ Ärgerlich macht Chumana sich wieder daran, dem düsteren Gang zu folgen. Ist das da hinten nicht ein Lichtschein? Ja, natürlich. Langsam wird das schwache Leuchten heller, als sie weitergeht. Dort steht, im schwachen Licht eines Lagerfeuers, eine Frau. Ihre Haltung ist gebückt und ihre Kleidung zerrissen und alt. Zottelige, lange graue Haare hängen über ihren Rücken herunter. Irgendwas an dieser Person kommt ihr seltsam vertraut vor. Als sie nur noch zwei Schritte von der Alten entfernt ist, dreht diese sich plötzlich um.

„Onide?“ Verwundert schaut Chumana auf die Frau, die eine merkwürdige Kristallkugel in den Händen hält. „Ich hätte nicht gedacht, dass unsere Wege sich noch einmal kreuzen.“

Neugierig schaut sie sich die Kugel näher an, als sie eine Bewegung darin wahrnimmt. Schockiert sieht sie in dem Kristall einen jungen Mann hocken, umgeben von Büchern.

„Was soll das, Onide? Wieso hast du Patarival in eine Kugel gesperrt?“

„Hab ich das?“ Die Alte lacht gackernd vor sich hin. „Das hat das Kerlchen ganz alleine geschafft, meine Kleine. Und wahrscheinlich ist das sogar besser für ihn. Aber wenn du meinst, holen wir ihn halt wieder raus.“ Schneller als Chumana reagieren kann, schleudert die Alte die Kugel gegen die Wand. Klirrend zerspringt sie und aus jedem Splitter, der zu Boden fällt, steigt ein Patarival und geht davon.

Chumana läuft ein Schauer über den Rücken, während Onide immer noch lachend davongeht.

„Wäre besser, Kleine, wenn du sie wieder einfängst“, ruft sie ihr über die Schulter zu. „Es ist nicht gut, wenn man so zerrissen ist.“

Müde und frustriert lässt Chumana sich neben das Feuer sinken. Ihr ist kalt, sie ist müde und vor allem hat sie endgültig genug von diesem schrecklichen Gang. Zitternd zieht sie die Beine an und schlingt ihre Arme darum. Bedrohlich scheinen jetzt die Schatten im Gang auf sie zuzukriechen. Wenn doch wenigstens ihre alte Vertraute sich um sie winden würde. Aber sie ist allein und fast völlig wehrlos. Plötzlich verlischt das Licht.

Dunkelheit. Undurchdringliche Dunkelheit umgibt sie. Und dann zeichnen sich vor ihr zwei unwirkliche Gebilde in der unendlichen Finsternis ab. Zwei ineinander verschachtelte Pyramiden, die eine schwarz, die andere weiß, bilden einen seltsam unwirklich erscheinenden Stern. Und daneben glüht etwas so stark, dass es in den Augen wehtut. Chumanas Augen tränen, während sie versucht, den Gegenstand im Innern dieses Glühens zu erkennen. Langsam ergeben die Umrisse einen Sinn. Das ist eine Statue. Stones Statue! Eine unerklärliche Furcht breitet sich in ihr aus. Zitternd springt sie auf und weicht einige Schritte zurück, als plötzlich eine Hand nach ihr greift. Panisch schlägt sie wild um sich.

„Ihr braucht keine Angst zu haben, wertes Fräulein“, sagt eine schmeichelnde Stimme zu ihr. Lurekar schaut sie aus schwarzen Rabenaugen an und legt ihr seinen schwarzen Umhang um die Schultern. Wieder einmal wird Chumana in den seltsamen Bann des Rabenartigen gezogen. „Vertraut mir, in meiner Nähe kann Euch nichts passieren“, säuselt er. Chumana zieht den Umhang fest um sich, während Lurekar den Arm um sie legt und sie langsam von diesem schrecklichen Ort wegführt. „Seht Ihr, Hampelmänner sind doch die besseren Anführer“, sagt der Schwarzgekleidete mit einem seltsamen Grinsen und fängt an, krächzend zu lachen. Erschrocken weicht Chumana vor ihm zurück. Ungläubig sieht sie, wie seine Nase immer größer wird und sich in einen scharfen, gebogenen Schnabel verwandelt. Aus seinen Armen wachsen auf einmal schwarze Federn und seine Beine enden nun in kräftigen Krallen. Verstört beginnt Chumana davonzulaufen. Nur weg von diesem seltsamen Vogel, der jetzt krächzend hinter ihr herfliegt. Mehrere Male umkreist er sie, dann spürt sie, wie seine Schwingen ihren Kopf streifen.