Während weit entfernt von den Sorgen der kleinen Abenteurergruppe der Priester noch über das Schicksal nachsinnt und zu ergründen versucht, was die Zukunft bereithält, fällt sein Blick auf ein unförmiges Bündel, das von den aufgebrachten Wellen an den Strand geworfen wurde. Selbst inmitten all des Treibholzes, des stinkenden Tangs und anderer, unbeschreiblicher Dinge zieht es den Blick des heiligen Mannes auf sich wie ein Magnet. Von weitem erweckt es den Eindruck eines großen Kleiderbündels oder eines Ballen Stoffes, vielleicht von einem Schiff verloren. Der Priester kneift die Augen zusammen, um Einzelheiten zu erkennen. Zischend entweicht ihm der Atem, als er begreift, was dort auf dem Strand liegt.

Als er aufspringt und aus dem Windschatten der Stämme herauseilt, trifft ihn der Sturm mit seiner ganzen elementaren Wucht. Nur unter Aufbietung seiner ganzen körperlichen Kraft gelingt es dem Mann, das Gleichgewicht zu halten. Es scheint, als wollte ihn der Sturm daran hindern, den gischtumspülten Strand zu erreichen, als fürchteten die entfesselten Elementarkräfte, er könnte ihnen ihre Beute entreißen. Mühsam stemmt er sich der tobenden und heulenden Naturgewalt entgegen, ringt dem Sturm Schritt für Schritt ab, doch schon nach kurzem sinkt er auf die Knie. Selbst in dieser gebückten, auf allen Vieren wie ein Tier kriechenden Haltung kommt der heilige Mann hier am Strand ohne jeden Schutz der Bäume nur quälend langsam voran. Der Sturm martert seine Haut, reißt an seinen Kleidern und nimmt ihm den Atem, doch schließlich hat er das Bündel erreicht. Keuchend ringt er um Atem und sammelt seine fast völlig aufgebrauchten Kräfte. Aber schon ein kurzer Blick schafft ihm die Gewissheit, dass seine Magie nicht mehr vonnöten war. Wer auch immer der Bedauernswerte sein mochte, hier kam jede Hilfe zu spät. Der Sturm hatte ganze Arbeit geleistet.

Kurz läuft dem Priester ein Schauer über den Rücken. War das ein weiteres Zeichen? Erst dieser ungeheure Sturm und sein Vernichtungswerk, und jetzt auch noch die direkte Konfrontation mit dem Tod – wies das auf das bevorstehende Ende dieses Zeitalters hin? Hatte die Apokalypse bereits begonnen?

Vorsichtig, fast behutsam dreht der heilige Mann den leblosen Körper herum. Die Kleidung ist von hochwertiger Verarbeitung, obwohl ihr der Sturm sehr zugesetzt hat. Staunend befühlt der Priester den Stoff, der trotz seiner Nässe weich und geschmeidig, aber auch fest und strapazierbar wirkt. So einen erlesenen Stoff gab es in Rechem nicht. Und trotzdem wirkte die Kleidung eher schlicht und funktionell.
Das Gesicht des Toten ist nicht zu erkennen. Der brodelnde Ozean hatte es bis zur völligen Unkenntlichkeit zerstampft. Das halblange Haar ist mit schmutzigem Tang verklebt. Als der Priester die Strähnen ein wenig zurückstreicht, erstarrt er in der Bewegung. Die Ohren waren spitz! Erst jetzt fällt dem heiligen Mann auch die Schlankheit der Gestalt auf. Die verrenkten, zerschmetterten Gliedmaßen hatten die feinen Körperlinien des Toten verzerrt wiedergegeben. Das hier war kein Mensch, sondern ein Elf. Möglicherweise gehörte er zur Besatzung eines der schnellen Elfensegler, die angeblich sogar bei völliger Windstille elegant über die Meere zogen. Wenn das, was man von den Elfenschiffen behauptete, auch nur annähernd der Wahrheit entsprach, dann war dies ganz sicher ein Zeichen! Die Elfenschiffe galten als unsinkbar. Mit einer Mischung aus Neid und Bewunderung hatten Seeleute davon berichtet, wie die eleganten Elfensegler mitten hinein in die schlimmsten Unwetter fuhren – und unbeschadet und ohne ein einziges zerrissenes Segel aus diesen wieder auftauchten. Sie konnten durch heimtückische Strömungen und unpassierbare Brandungen kreuzen, als wären sie eins mit dem Wasser, auf dessen Rücken sie schwammen. Hexerei, zweifelsohne. Nur ein Hexer konnte ein Schiff mit solcher Sicherheit durch die tückischen Elemente geleiten. Doch in diesem Sturm schien selbst die elfische Hexerei versagt zu haben. Wenn es nicht einmal den Elfen gelang, die Elemente zu besänftigen oder zu ihrem Zwecke zu gebrauchen, dann mochte wahrhaftig das Ende der Zeit, oder zumindest eine Wende bevorstehen.

Der Priester schaut mit zusammengekniffenen Augen den Strand entlang, den Blick mit den Händen gegen den brüllenden Sturm abschirmend. Zwar ist der Strand neben dem angespülten Tang auch von zahlreichen Holztrümmern übersät, doch vermag er nicht zu sagen, ob es sich dabei um die Wrackteile eines Schiffes oder Reste zerborstener Kisten oder gar Bäume handelt. Es würde sich nicht klären lassen, ob dieser Elf über Bord gespült wurde oder sein Schiff im Sturm Schiffbruch erlitten hatte.

Mühsam macht sich der Priester daran, den Toten vom Strand wegzuziehen, damit dieser nicht wieder ins Meer zurückgerissen wird. Dabei gleitet ein kleines Fass aus den Gewändern das Elfen, kaum größer als ein Wasserkrug. Erstaunt betrachtet der Priester das Fässchen. Es ist von dunklem, fast schwarzem Holz, hervorragend verarbeitet, jedoch ganz sicher nicht elfischen Ursprungs. Solche Fässer werden für die Aufbewahrung erlesener Getränke genutzt. Doch was wollte der Elf damit? War das Fass ein Teil der Ladung, oder war es gar leer, und der Elf hatte sich an ihm festgeklammert?

Das Fass ist schwer und enthält dem Gefühl nach eine Flüssigkeit. Irgendwie gelingt dem heiligen Mann das Kunststück, dem Sturme zum Trotz Fass und Elf gleichzeitig in den Schutz der nahen Bäume zu ziehen. Dort, abgeschirmt hinter den umgestürzten Stämmen, untersucht er das Fass gründlicher. Was mochte es Wertvolles enthalten, dass ein um sein Leben kämpfender Elf es bis zum Ende und sogar darüber hinaus bei sich behielt? Oder war es nur ein launischer Zufall, der Fass und Leichnam zusammenbrachte?

Auf dem Fass sind einige kantige Runen zu erkennen. Obwohl sich deren Sinn dem Priester nicht erschließt, erkennt er sie als zwergische Schriftzeichen. Wahrscheinlich enthält das Fass das berühmte zwergische Dunkelbier, ein auch bei Menschen sehr hoch geschätztes, ausgesprochen schmackhaftes und wegen seiner Seltenheit sehr kostbares Getränk. Aber wie kam ein Elf dazu? Die eher frostigen Beziehungen zwischen Elfen und Zwergen waren sogar unter den Menschen bekannt, und Zwergenbier schlürfende Elfen entsprachen auch überhaupt nicht der Vorstellung, die man von den eleganten und eher abweisenden Femdlingen hatte. Vorsichtig untersucht der Priester das Fass auf weitere Zeichen, findet jedoch nur eine kleine, einfach verriegelte Holzklappe, hinter der sich ein schmaler Hahn aus einem dunkel glänzenden Metall in einer Vertiefung befindet. Nach kurzem Zögern öffnet der Priester den kleinen Hahn. Fast augenblicklich atmet er ein dunkles, sehr intensiv erdiges Aroma ein, und für einen kurzen Moment entsteht die Illusion eines tiefen Stollens und der völligen Geborgenheit tief im Schoße des Gebirges, bevor ein durch den Wall aus Baumstämmen brechender Windstoß den Augenblick vertreibt. Überrascht reißt der Priester die Augen weit auf – für den winzigen Zeitraum dieser Illusion schienen alle Sorgen von ihm abgefallen zu sein, und selbst jetzt spürt er deren Nachhall in sich, der sich durch eine innere, kraftspendende Wärme bemerkbar macht. Und dabei hatte er nur das Aroma eingeatmet! Hastig schliesst der Priester den Hahn. Was er hier in den Händen hält, ist ohne Zweifel ein Vermögen, denn es kann sich um nichts anderes als den einzigartigen, zwergischen Stollenschnaps handeln, ein hochprozentiges Getränk, dem man erstaunliche Wirkung nachsagt. Selbst unter Zwergen gilt dieser beliebte Schnaps als Kostbarkeit und Rarität, und nur ausgesprochen selten gelangt eines dieser praktisch unbezahlbaren Fässer in die Hände anderer Völker. Wie mochte ein Elf zu solch einem Schatz gekommen sein?

Behutsam und mit einem Anflug eines schlechten Gewissens stellt der Priester das Fässchen zur Seite. Die Neugier hatte ihn übermannt, doch wäre es nicht seine Pflicht gewesen, sich zuerst um den Toten zu kümmern? Er hebt die Hand, doch zögert dann. Wäre ein Segen Undars überhaupt angemessen einem Elf gegenüber? An welche Götter glaubten die Elfen? Was geschah mit ihrer Seele nach dem Tode? Wie sollte er mit der toten Hülle verfahren? Würde dem Elfengeist womöglich der Einzug in seine Anderswelt verwehrt und er an die irdische Erde gebunden bleiben, wenn er seinen toten Körper mit dem falschen Segen belegte? Übergaben die Elfen ihre Toten der Erde oder verbrannten sie sie und streuten dann die Asche in alle Winde?

Resignierend lässt der Priester die Hand sinken. Eigentlich wusste er überhaupt nichts über Elfen...