Chumana schaut Patarival leicht genervt an. Mit den heutigen Geschehnissen? Natürlich, diese Powaka hat genauso nach Hirngespinsten gejagt wie die merkwürdige Gesellschaft, in die sie hier geraten ist. Nach Ethuillinum suchen sie, der alten Stadt des Herrschervolkes, das den alten Legenden zufolge zwischen der Erde und den Wolken zu finden ist. Und jeder Sterbliche, der seinen Weg dorthin sucht, soll unzähligen Prüfungen unterzogen sein, bevor der Hüter der Stadt ihm Einlass gewährt. Und wenn sie diesen merkwürdigen Brief richtig interpretiert, jagte diese Powaka mit ihren Gefährten ebenfalls nach den alten Legenden. Die Narren dieser Welt starben halt nie aus.

Seid ihr denn alle total verrückt, möchte Chumana Patarival am liebsten anbrüllen. Aber sie hält sich zurück. Immerhin hat sie ihr Leben lang daran gearbeitet, negative Gefühle nicht offen zu zeigen. Darin hat sie Übung. Und genauso lange plagt sie sich schon mit diesem abergläubischen Unsinn herum. Auch bei den Powaka gibt es genug, die in jedem merkwürdig geformten Stein ein böses Omen sehen oder die Zukunft aus den Gedärmen von Ziegen zu erkennen glauben. Jedes Neugeborene bekommt sogar seine persönliche Lebensvorhersage von der Meda, nach der sich oftmals seine gesamte Ausbildung richtet.

Chumana lacht laut auf, als sie sich an ihre eigene Vorhersage erinnert. Sorgsam aufgeschrieben mit Blut auf einem Stück Ziegenleder jener Ziege, die extra zu Ehren ihrer Geburt geschlachtet wurde und aus deren Innereien die Prophezeiung gelesen wurde.

Ein großes Kind ist uns heute geboren. Eine Powaka von überragender Macht. Eine, welche hinter die Dinge schaut und die Zukunft sieht. Eine, die ungewöhnliche Wege beschreitet und das Volk der Tuwanasavi zu neuer Größe führt. Eine Mittlerin zwischen den Völkern, Geistern und Göttern. Eine Anführerin, unter deren Herrschaft wieder vereint wird, was einst entzweit wurde.

Große Macht, pah. Es hatte sich schnell herausgestellt, dass Chumana nicht das geringste Talent für Kampf-, Elementar- oder sonstige zerstörerische Zauber besaß. In einer Gesellschaft, in der das Recht der Stärkeren herrscht, keine gute Voraussetzung. Immerhin hatte sie es hinter Unas Rücken geschafft, sich das Wissen um Kräuter und Gifte anzueignen und so erfolgreich die ein oder andere unangenehme Person aus dem Weg zu räumen. Durch Intrigen, Erpressung und das Beseitigen von störenden Personen hatte sie sich so ihren Platz in der Gesellschaft der Tuwanasavi erkämpft und sogar einige Verbündete gewinnen können, die ihr gegen Una beistanden.

Aber wenn sie ehrlich zu sich selber ist, muss sie sich eingestehen, dass sie gegen eine Powaka wie Una ein unbedeutendes Nichts ist. Und Una würde nicht im Traum daran denken, ihr den Platz als Anführerin zu überlassen. Weder ihre Mutter noch deren Mutter waren alt genug geworden, um solche Ansprüche zu stellen. Und wäre Chumana dumm genug, zurück in ihre Heimat zu gehen, wäre auch ihr Tod nur eine Frage der Zeit. Solange sie außerhalb von Unas Reichweite bleibt und sie auch noch mit nützlichen Informationen versieht, ist sie relativ sicher. Zumindest solange Una noch einen Nutzen in ihr sieht.

Und der Unsinn darüber, dass sie angeblich das zweite Gesicht hat. Nicht ein einziges Mal hat sie bisher etwas vorhergesehen, falls so etwas überhaupt möglich ist. Und für die Versuche der Meda, ihr das Lesen von Runen oder das Deuten aus Innereien beizubringen, hatte sie nur Spott übrig. Im Grunde hält sie das Ganze für ausgemachten Blödsinn. Gut, ihre Art zu leben war für die Tuwanasavi ungewöhnlich, aber wer Una kennt, dem ist klar, das Chumana ungewöhnliche Wege einschlagen muss, um zum Überleben.

Ihre einzige Fähigkeit, für die Tuwanasavi ungewöhnliche Fähigkeit ist ihre Gabe, mit den Schlangen zu reden. Die meisten Powakas haben einen Vertrauten, ein Tier, mit dem sie eng verbunden sind, aber wirklich reden können sie mit ihm nicht. Und Chumana kann nicht nur mit den Schlangen reden, nein, sie kann sie sogar rufen. Chuma hatte ihr die alten Worte beigebracht, die jede Schlange im näheren Umkreis dazu brachten, ihrem Willen zu folgen. Aber so ungewöhnlich diese Gabe auch ist, und selbst, wenn sie eine gewisse Macht mit sich bringt, gegen eine Powaka, die Kampf- oder Elementarzauber beherrscht, ist sie unbedeutend.

Chumana blickt Patarival an und ihr wird klar, dass ihr langes Schweigen und ihr Lachen dem Bücherwurm ziemlich komisch vorkommen müssen. Sie schenkt ihm ein zerknirschtes Lächeln und zuckt mit den Schultern.

„Wer behauptet, viel von Dämonen zu verstehen, ist ein Narr. Es gibt unzählige Arten dieser Schattenwesen. Manche sind harmlos, es gibt sogar einige, die ganz freundlich sind und nur in Ruhe gelassen werden wollen. Die meisten sind zwar nicht ungefährlich, aber auch nicht so mächtig, dass man wirklich Angst vor ihnen haben muss. Es gibt eine Menge Hilfsmittel, die selbst Euch in die Lage versetzen würden, vor ihnen sicher zu sein oder sie sogar zu manipulieren. Aber einige sind wirklich das Abbild der schlimmsten Albträume. Unberechenbar, grausam und fast unbesiegbar. Schon möglich, dass sich so Wesen in Rechem eingenistet hat. Und vielleicht hat der Furtheimer sogar Recht, wenn er sagt dass es von Wut, Blut und Angst genährt wird. Aber genauso gut ist es möglich, dass diese Morde dem Gehirn eines sehr kranken Menschen entsprungen sind. Ich bin sicher, dass sich dieses Rätsel mit der Zeit noch lösen wird.

Und was die heutigen Ereignisse betrifft: Der Brief ist uralt. Mag sein, dass beide Gruppen den gleichen Märchen hinterherjagen. Aber es wäre schon sehr seltsam, wenn die Ereignisse in Rechem damit zusammenhingen. Und selbst wenn jedes Märchen seinen wahren Kern hat, glaube ich nicht daran, dass es unseren gemeinsamen Bekannten viel einbringen wird.“