Mit gemischten Gefühlen hat Lurekar beobachtet, wie an Bord des Piratenschiffs in seinem Blickfeld Feuer ausgebrochen ist. Es waren keine Flammenpfeile oder Brandgeschosse der Elfen zu sehen, und von einem bloßen Zufall ist nicht auszugehen. Hat sich der feige kleine Drache etwa ein Herz gefasst und dort drüben gezündelt? So nützlich das jetzt wäre – dann müsste man das jähzornige Reptil in Zukunft noch besser im Auge behalten.

Eine plötzliche Erschütterung reißt den Schwarzgekleideten aus seinen Überlegungen, und er hat Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Den Geräuschen nach, die von Deck herabdringen, muss ein anderes Piratenschiff mit dem Entern begonnen haben. Unschlüssig wägt Lurekar ab, was er tun soll. Sich ohne Waffe in einen solchen Kampf zu stürzen, wäre äußerst dumm, das sehen die anderen sicher ein. Und hier unten scheint es vorerst ungefährlich zu sein. Warum also nicht weiter abwarten? Andererseits gibt es an Bord einige wirklich hübsche Frauen, denen man mit gewagten Aktionen imponieren könnte!

Nachdenklich reibt sich der Musiker die Wangen. Hat der Furtheimer vorhin nicht sogar betont, sinnlose Gewalt würde irgendeinen Dämon stärken? Für sinnlose Gewalt scheinen diese Ostküstler eine echte Vorliebe zu haben. Ihnen diese Vorliebe zu verleiden, könnte vielleicht Spaß machen. Und dann ist da ja noch diese lästige Empfehlung der beiden alten Magier, Gutes zu tun ...

Leise seufzend schleicht sich Lurekar aus der Kabine und späht aus dem Schatten die Treppe empor, die an Deck führt. Eine Horde verwegen aussehender Kerle liefert sich erbitterte Kämpfe mit den Elfen. Diese halten sich zwar gut, sie sind den Piraten aber an Körperkraft eindeutig unterlegen und weichen vor deren ungestümen Hieben öfters zurück, um dann mit ihrer größeren Geschicklichkeit zu kontern. Eine richtige Front ist nicht auszumachen – die Kämpfenden verteilen sich auf einen großen Teil des Schiffes.

Dennoch gibt es einen Bereich ganz in der Nähe der Treppe, an den sich schwer verwundete Elfen zurückziehen können. Eine besonders zierliche Elfin kümmert sich um die Verletzten, säubert ihre Wunden und legt ihnen Kräuterverbände an. Selbst für ihr Volk wirkt sie sehr blass, was noch durch ihre dunklen, langen Haare unterstrichen wird, aber in Verbindung mit ihrem konzentrierten Gesichtsausdruck und ihren anmutigen, sicheren Bewegungen zieht ihre ganze Erscheinung Lurekars Aufmerksamkeit sofort auf sich. Ein stöhnender, stark blutender elfischer Soldat wird von einem Kameraden zu ihr getragen und auf dem Boden vor ihr abgelegt. Als sie die Wunden des Mannes untersucht, huscht ein Schatten der Sorge über ihre Miene. Sie hebt die Arme und stimmt einen melodiösen Singsang an. Kleine Lichtperlen schweben von ihren Händen zu dem Verwundeten hinunter. Könnte jetzt nicht einer der verdammten Piraten angestolpert kommen, damit man sich als Retter und Held aufsp...

Ein lautes, schmatzendes Geräusch ertönt. Die Lichtperlen sind fort. Die zierliche Elfin schwankt, als habe man ihr einen heftigen Stoß versetzt. Auf ihren Zügen zeichnet sich jedoch eher Überraschung als Schmerz ab. Der Verletzte hingegen krümmt sich und stöhnt, fast als habe man seine Wunden bereits versorgt und dann noch einmal die Klinge darin herumgedreht.

Nur einen Augenblick später ist Lurekar in den Gang unter Deck zurückgewichen. „Doch nicht jetzt!“, flüstert er in jammerndem Ton und streicht über die Bända, die sich wieder an seiner Gürtelschlaufe zusammenrollt.

Viele Köpfe an Deck wenden sich der Treppe zu. „Ihr beiden! Seht nach, was da los ist!“, herrscht ein großer, kahl geschorener Mann zwei Piraten an, die auf der anderen Seite der Treppe kämpfen. Mit kräftigen Hieben ihrer Entermesser drängen die beiden ihre elfischen Gegner zurück. Mehrere andere Piraten setzen nach.

Das polternde Geräusch der Piratenstiefel auf der Treppe ist schon zu hören, als Lurekar in eine der Kabinen huscht. Ohne zu überlegen, stellt er sich hinter die halb geöffnete Tür. Seine Gedanken kreisen in einem fort darum, was er gegen die beiden Männer unternehmen könnte. Mit hastigen Blicken sucht er den Raum nach etwas ab, das als behelfsmäßige Waffe zu gebrauchen ist. Dann zwingt er sich, ruhig zu atmen, und lauscht angestrengt.

Wie nicht anders zu erwarten, beginnen die beiden Kerle, die Kabinen zu durchsuchen. Einer hat sich offenbar die erste Kabine auf der anderen Seite vorgenommen. Schritte nähern sich dem Raum, in dem Lurekar Zuflucht gesucht hat. Vor der halb geöffneten Tür bleibt der Mann stehen. Anscheinend sieht er sich von draußen erst einmal im Raum um. Er gibt ein leises, verächtliches Schnauben von sich und will gerade hereinkommen, da tritt Lurekar mit voller Kraft gegen die Tür.

An Nase, Kinn, Hand und Fuß getroffen, taumelt der Pirat zurück. Seine Waffe fällt scheppernd zu Boden, die Tür schlägt zu. Der Mann heult auf vor Schmerz und Wut. Ein Blutschwall schießt aus seiner Nase und verteilt sich auf seiner Kleidung. Der zweite Pirat stürzt zurück in den Gang, wo er seinen Kameraden benommen und blutend liegen sieht. „Was is' passiert? Wer war das?“, fragt er alarmiert. „Keine Ahnung, verflucht!“, stößt der Verletzte nur hervor und hält sich die Nase. Misstrauisch kommt sein Kamerad näher.

Fieberhaft sucht Lurekar nach einem Ausweg aus dieser Lage. Wäre der Kerl allein gewesen, hätte er jetzt über ihn hinwegspringen und an Deck fliehen können. Aber so? Der andere Typ steht sicher schon im Gang, und er ist zweifellos bewaffnet. An ihm wird nicht einfach so vorbeizukommen sein, und dieselbe Masche wird bestimmt kein zweites Mal funktionieren. Aber irgendwie muss auch er auszutricksen sein. Überlege – was zeichnet Piraten aus? Schnell, welche Schwäche ließe sich gegen sie ausnutzen? Sie sind ein sehr abergläubisches Völkchen, ja ... zumindest an der Westküste. Ob das an der Ostküste genauso ist, wird sich gleich herausstellen.

Der unverletzte Pirat greift gerade nach dem Türknauf, da ertönt aus der Kabine ein tiefes, fauchendes Grollen, das in ein Heulen und Knurren übergeht. Unwillkürlich zuckt die Hand des Mannes zurück. Verunsichert sieht er noch einmal zu seinem Kameraden. „Was is' da drin, verdammt?“, fährt er ihn an. „Guck doch selber nach, feige Socke!“, keucht dieser und rappelt sich auf, hält aber Abstand zur Tür.

Was soll dieser Mist, verdammt?, geht es dem Piraten durch den Kopf, Können diese Elfenschweine nich kämpfen wie Männer? Kein Wunder, dass die Weiber ihnen auf der Nase rumtanzen! Soll'n mich bloß in Ruhe lassen mit ihrer verfluchten Baum- und Geisterknutscherei! Aber Glatze hat befohlen, dass wir nachgucken, und Glatze mag's nich, wenn man seine Befehle missachtet. Also los!

Der Mann wischt sich den Schweiß des Kampfes aus dem Gesicht, um das leichte Nervenflattern zu beruhigen, macht einen Schritt zurück und tritt die Tür der Kabine auf. Mitten im Raum befindet sich ein Wesen, wie er noch nie eines erblickt hat: Es sieht zwar irgendwie menschlich aus, wirkt aber sehr hager, hat graue Haut und ist ganz in Schwarz gehüllt. Über den eingefallenen Wangen funkeln pechschwarze Augen. Seine Körperhaltung ist unnatürlich ... welcher Mensch könnte sich so verrenken? Das Wesen öffnet die schwarzen Lippen, fährt mit seiner schwarzen Zunge darüber und schmatzt. Dann gibt es ein kehliges Röcheln von sich, das entfernt an ein heiseres Lachen erinnert und zu einem dröhnenden, fast sehnsüchtigen Keuchen anschwillt. Die unheimliche Kreatur schiebt den Unterkiefer weit vor, reißt die schwarzen Augen noch weiter auf und haucht mit einer rauen, erstickten Stimme, die auch metertief aus dem Boden kommen könnte: „Seelen!“. Ihr verkrampft wirkender Arm macht eine greifende Bewegung, sie wendet den Blick jedoch nicht ab, und der Sabber läuft ihr aus dem Mund, als sie mit unverhohlener Gier, die eigentlich nur quälendem Warten entsprungen sein kann, lechzend hinzufügt: „Endlich frische Seelen!“.

Im selben Moment durchzuckt die Piraten die Erkenntnis, womit sie es zu tun haben müssen. Sie drehen sich um und laufen davon, die Treppe hoch. „Untote!“, schreit der eine, „Die Spitzohren haben Untote!“.

Erleichtert und zufrieden grinsend räuspert der Schauspieler sich, wischt sich den Speichel vom Mund und massiert die vom Grimassenschneiden stark beanspruchten Gesichtsmuskeln. Die Verwirrung, die er gestiftet hat, wird sicher nicht lange anhalten, aber vielleicht können sich die Elfen die Verunsicherung der Piraten ja zunutze machen. Das Mal der Dämonin hat also auch sein Gutes!