Nachdem Chumana umständlich die großen Holzteile von sich geschoben hat, kriecht sie noch im Schutz der Trümmer so weit, bis sie einen einigermaßen guten Blick auf das Deck hat. Wachsam schaut sie sich auf dem Schlachtfeld um. Die Elfen liefern sich einen erbitterten Kampf mit einer Horde grobschlächtiger, ungepflegter Kerle, die zwar eher ungelenk, aber umso kraftvoller mit ihren Waffen um sich schlagen, blutige Ernte unter den Elfen einfahrend. Aber diese sind nicht weniger erfolgreich mit ihren geschickten Ausfällen und Manövern und die Bogenschützen in der Takelage über ihr schicken mit jedem weiteren Pfeilhagel gut eine handvoll Seelen in die Totenreiche. Der ein oder andere Elf, der sich ein wenig Freiraum erkämpft hat, versucht seinen Gegnern mit Zaubern zuzusetzen, aber die meisten Versuche schlagen fehl, da die Elfen meist zu schnell wieder von neuen Gegnern attackiert werden.
Ob sie wohl mit einem Zauber in das Geschehen eingreifen kann? Nein, Chumana verwirft den Gedanken so schnell, wie er gekommen ist. Sie ist viel zu ausgebrannt. Ein weiterer Zauberversuch würde ihr unweigerlich körperlichen Schaden zufügen oder sie sogar töten und kein Zauber, den sie beherrscht, ist stark genug, um ein solches Risiko zu rechtfertigen. Und falls die Elfen unterliegen, kann es gut sein, dass sie noch auf die letzten Reste ihrer Kraft angewiesen ist, um hier zu verschwinden.
Wenn sie etwas anderes tun will, als einfach im Schutz der Trümmer zu warten, wird sie sich wohl auf ihren Dolch, Geschicklichkeit und Schnelligkeit, oder auch das ein oder andere Mittelchen in den Gürteltaschen verlassen müssen. Und auf ein gutes Quäntchen Glück. Chumana hasst den Nahkampf. Sie ist gut darin, jemandem heimlich und lautlos das Leben zu nehmen, aber im Nahkampf ist sie weniger geschickt. Untätigkeit kann sie allerdings auch nicht ertragen.
Mit einem letzten Blick versichert sie sich, dass der Moment gerade günstig ist, bevor sie sich erhebt und unter die Kämpfenden tritt. Einem bärtigen, stinkenden Hünen neben ihr, der gerade einem am Boden liegenden, entwaffneten Elfen mit einer Axt den Schädel spalten will, verpasst sie erst einmal einen gezielten Tritt in die Kniebeuge, woraufhin er mit einem überraschten Fluch einknickt. Dass der Elf, die Ablenkung ausnutzend, mittlerweile von irgendwoher ein neues Schwert in den Händen hält und dem Piraten erneut entgegentritt, bekommt sie schon nicht mehr mit.
Von hinten packt sie eine Hand grob an der rechten Schulter und reißt sie von den Füßen. Noch im Fallen dreht Chumana sich herum um und schlägt mit der linken, freien Hand blindlings um sich. Einen Moment lang wird ihr übel vor Schmerz, als die verletzte Hand auf Widerstand stößt, aber sie beißt die Zähne zusammen, den glücklichen Zufall ausnutzend, und kratzt mit ihrem Siegelring so kräftig wie nur möglich über den Körper des Angreifers. Stoff reißt und sie spürt, wie auch die Haut des Mannes von den scharfen Kanten des Ringes aufgeritzt wird. Sie kann das hämische Lachen des Piraten über die banale Verletzung hören und nimmt befriedigt wahr, wie daraus ein Röcheln wird, als das Nervengift innerhalb von Sekunden seinen Körper lahm legt.
Chumana berührt kaum den Boden, da ist sie auch schon wieder auf den Beinen. Sie weiß, dass jetzt nur Schnelligkeit ihre mangelnde Kraft und die unzureichenden Erfahrungen im Kampf wettmachen kann. Schon erregt sie die Aufmerksamkeit eines weiteren Piraten, der gerade sein Entermesser aus einer Elfin zieht. Mit siegessicherem Grinsen und irgendwas davon murmelnd, dass er sich ein Späßchen mit ihr machen wird, wenn er mit ihr fertig ist, kommt er auf sie zu. Chumana schenkt dem dreckigen Gewäsch gar keine Beachtung. Sie konzentriert sich darauf, den richtigen Zeitpunkt abzuwarten. Als der Kerl nur noch zwei Schritte von ihr entfernt ist, lässt sie sich fallen und ist schon mit einer gekonnten Rolle an ihm vorbei, nicht ohne ihm den vergifteten Dolch über das Bein zu ziehen.
Eigentlich will Chumana sofort wieder auf die Beine zu springen, aber der Schmerz in ihrer verletzten Hand raubt ihr den Atem. Benommen bleibt sie liegen und fängt sich einige schmerzhafte Tritte von den umstehenden Kämpfern ein. Akrobatik mit einem verstauchten Handgelenk ist wohl doch keine so gute Idee. Gepeinigt schreit sie auf, als einer der Kämpfer ihr auf die Finger der sowieso schon verletzten Hand tritt. Das trockene Knacken verheißt nichts Gutes. Verzweifelt rammt sie ihren Dolch in das Bein des Kämpfers. In diesem Moment ist es ihr egal, ob es Freund oder Feind trifft, aber dem Stoff der Hose nach zu urteilen, ist es ein weiterer Angreifer, der durch die Attacke zu Boden stürzt.
Der Schmerz in der Hand macht sie fast wahnsinnig, aber sie steht trotzdem, leicht taumelnd, auf. Sie muss einen sicheren Ort finden, um die Hand zu versorgen, sich einen Moment auszuruhen und auch, um das Gift auf ihrem Dolch zu erneuern. Ein gutes Stück vor ihr kann sie einen Treppenabgang sehen. Wahrscheinlich geht es dort zu den Kabinen. Mühsam schafft sie es, sich in die Richtung der Treppe zu bewegen und dabei den Kämpfenden auszuweichen. Sie ist nur noch wenige Schritte von der Treppe entfernt, als ihr sie Glück verlässt. Ein Elf, der dem Schlag eines Angreifers rückwärts ausweicht, rempelt sie an. Sie verliert das Gleichgewicht und fällt auf das Deck. Geistesgegenwärtig dreht sie sich im Fall noch herum, so dass sie auf den gesunden Arm und nicht wieder auf die verletzte Seite fällt. Allerdings verliert sie dabei den Dolch, der einige Meter weit geschleudert wird, die retende Treppe hinunter.
Fluchend will sie sich wieder aufrappeln, als ein kräftiger Tritt sie in die Seite trifft. Von der Wucht des Aufpralls wird sie auf den Rücken gewirbelt und der Schmerz raubt ihr für einen Moment die Sinne. Als sie wieder klar denken kann, sieht sie über sich einen der Piraten mit einem abstoßenden, vernarbten Gesicht, der eine mit Eisennägeln beschlagene Keule über dem Kopf schwingt.
Chumana sieht die Keule auf sich zurasen und schließt die Augen. Das war es dann wohl, schießt es ihr durch den Kopf. Das ist ein kurzer Ausflug aus dem Reich der Toten gewesen.
Ein lautes Bersten neben ihrem Kopf lässt ihre Ohren klingeln. Etwas Schweres fällt auf sie. Chumana öffnet skeptisch die Augen. Die Keule ist eine Handbreit neben ihrem Ohr in die Planken gekracht und das Narbengesicht liegt mit glasigen, aufgerissenen Augen auf Chumana. Instinktiv sucht ihr Blick die Takelage über ihr. Bereits einen neuen Pfeil auf den Bogen spannend, nickt Britta ihr zu. Chumana schiebt den toten Piraten von sich und erwidert Brittas Nicken mit einem dankbaren Heben der Hand. Dann rappelt sie sich unter einigen Flüchen wieder auf und bringt die letzten Schritte zur rettenden Treppe hinter sich. Aus den Augenwinkeln heraus nimmt sie wahr, dass noch mindestens zwei der Angreifer, die dumm genug waren, in ihre Richtung zu gehen, von Pfeilen aufgehalten werden. Anscheinend hält Britta ihr den Rücken frei. Endlich an der Treppe angelangt, betritt Chumana den Sicherheit verheißenden Niedergang.
Sie ist gerade zwei Stufen die Treppe hinunter, als zwei der ungepflegten Kerle die Treppe heraufstürmen und sie erneut von den Beinen reißen. Sie hört noch, wie der eine etwas von Untoten schreit, während sie die Stufen hinunterpurzelt.
„Langsam glaub ich, ich hätte bei Una im Dorf bleiben sollen. Da ist es sicherer.“ Chumana haut mit der Faust der gesunden Hand wütend auf den Boden. Sie hat keine Lust mehr aufzustehen. Anscheinend hat das heute eh keinen Sinn. Wenn dieser Tag vorbei ist, falls sie das Ende überhaupt noch erlebt, wird sie nie wieder über langweilige Beobachtungsaufträge meckern.