Einige Sekunden bleibt Chumana noch trotzig liegen. „Untote!“, hat der Kerl geschrien, der sie umgerannt hat. Wartet etwa eine weitere Gefahr am vermeintlich sicheren Ort auf sie? Chumana konzentriert sich darauf, Lebewesen oder anderes Gezücht in ihrer Umgebung zu erspüren, kann aber nichts erkennen. Wahrscheinlich hat sich der Kerl vor seinem eigenen Spiegelbild erschrocken, denkt sie.

Dann nimmt sie sich zusammen und steht auf. Suchend schaut sie sich nach ihrem Dolch um. Zufrieden stellt sie fest, dass er nur wenige Schritte von ihr entfernt liegt. Schnell hebt sie ihre Waffe auf. Als sie sich wieder erhebt, zuckt sie zusammen. Direkt vor ihr steht eine Gestalt. Schon will sie instinktiv mit dem Dolch zustechen, als sie den Kangee erkennt.

„Bei allen Dämonen der Totenreiche, musst du dich so anschleichen, Lurekar? Was treibst du eigentlich hier unten, während da oben alle um ihr Leben kämpfen? Verletzt siehst du nicht aus.“ Misstrauisch schaut Chumana den sonderbaren Kerl an. Versteckt sich wohl, um seine graue Haut nicht zu gefährden, geht es ihr durch den Kopf. Dann schaut sie auf einmal noch interessierter in sein Gesicht. Grau! Anscheinend hat sie gerade den mysteriösen Untoten gefunden. Gar nicht mal so dumm, Lurekar von der Westküste. Als Schauspieler scheint du wohl was zu taugen.

Lurekar ist durch das Poltern auf der Treppe neugierig geworden und aus der Kabine geschlichen. Er mustert die attraktive Blonde, die ernsthaft verletzt zu sein scheint, erinnert sich aber gleich an die Ohrfeige von vorhin.

„Du bist verletzt.“, stellt er nüchtern fest.

Kurz kommt ihm der Gedanke, sich selbst zum Versorgen der Wunden anzubieten, aber er weiß, dass seine Kenntnisse darin Chumana nicht viel nützen würden. Vielleicht ist es ja besser, sie zu der zierlichen Elfin nach oben zu bringen? Nein, er verwirft den Gedanken. Wenn er schon mit der hübschen jungen Frau alleine ist, dann sollte er die Zeit nutzen.

„Kann ich dir irgendwie helfen?“, bietet er mit einem freundlichen Lächeln an.

„Ich komme gut ohne deine Hilfe aus,“ erwidert Chumana. „Deine Hände sind mir bereits einmal zu nahe gekommen und ich werde garantiert nicht dulden, dass du mir näher als drei Schritt kommst. Wenn du dir keinen Dolchstoß einfangen willst, gehst du mir besser aus dem Weg.“

Chumana geht schnell an dem Kangee vorbei und öffnet die nächstbeste Tür. Sie findet sich in einer Gemeinschaftsunterkunft der Elfenbesatzung wieder. Dämmriges Licht scheint durch zwei Bullaugen in den recht kleinen Raum hinein. Das Zimmer ist mit mehreren mehrstöckigen Betten voll gestellt. Einige große Kisten stehen zwischen den einzelnen Betten und neben der Tür steht ein kleiner Tisch mit einer Waschschüssel und einem Eimer frischen Wassers darunter. An den Wänden sind Haken eingelassen, die mit Garderobe behängt sind, und auf zwei kleinen Regalen befinden sich einige Bücher und persönliche Gegenstände wie Kämme, Spangen und Schreibzeug.

Chumana überlegt nicht lange. Hier findet sie alles, was sie benötigt, um ihre Wunden zu versorgen, und falls sich einer der Elfen darüber ärgern sollte, dass sie sich einfach etwas nimmt, wird sie sich später damit beschäftigen. Energisch schließt sie die Tür. Dann schnappt sie sich, immer die Tür im Auge behaltend, eins der Bettlaken vom nächsten Bett und zerteilt es, so gut wie das mit nur einer brauchbaren Hand geht, in Bandagen. Dann zieht sie sich unter einigem Fluchen den Siegelring von dem gebrochenen Finger und anschließend den Handschuh von der schon stark geschwollenen Hand. Nein, das sieht wirklich nicht gut aus.

Unter Schmerzenslauten und einigen Flüchen gelingt es Chumana in den nächsten Minuten trotz des Handikaps, die Finger zu schienen und sie mit dem verstauchten Handgelenk in einen festen, stützenden Verband einzubinden. Auch die geprellten Rippen versorgt sie mit einem Stützverband. Vor Schmerz steht ihr dabei der Schweiß auf der Stirn und so entschließt sie sich, ein Stück von einer besonderen Wurzel zu kauen. Das Zeug ist extrem schmerzlindernd, wird ihr aber in einem Sonnenlauf schlimme Bauchkrämpfe einbringen. Nun ja, auch dagegen ist ein linderndes Kraut gewachsen.

Endlich versorgt, greift sie nach ihrem Dolch, um das Gift zu erneuern. Auch wenn sie nicht mehr aktiv oben am Kampf teilnehmen wird, ist es ratsam, für den Fall, dass die Angreifer siegreich sind, gewappnet zu sein. Chumana runzelt bei diesem Gedanken die Stirn. Wer sind eigentlich diese runtergekommenen Kerle, die so plötzlich, anscheinend von dem anderen Schiff stammend, aufgetaucht sind? Wollen die Piraten den Gefangenen etwa befreien?

Als sie das Flakon mit dem Gift aus ihrer Gürteltasche zieht, fällt ihr ein anderes kleines Fläschchen in die Finger: Tollpulver. Ein starkes Gift, das aus einem auf Getreide wachsenden Pilz gewonnen wird. Einer Salbe zugesetzt, oder in geringsten Mengen als Aufguss kann es für verschiedene medizinische Zwecke eingesetzt werden. In größeren Dosen verursacht es schwere Vergiftungen mit Blutungen, Krämpfen, Durchfall und Ausschlag, die meist tödlich enden. Und in Pulverform! Über Chumanas Gesicht huscht ein schelmisches Lächeln. Eingeatmet hat das Zeug eine ganz besonders interessante Wirkung.

Ein Plan, um das Kampfgeschehen an Deck ein wenig zu Gunsten der Elfen zu beeinflussen, nimmt in Chumana Form an. Aber zuerst muss sie sich um den Dolch kümmern. Während sie vorsichtig das Gift erneuert, was mit nur einer Hand nicht einfach, fast schon selbstmörderisch ist, überlegt sie fieberhaft, wie sie ihre Idee in die Tat umsetzen kann. Das größte Problem ist, dass sie mit dem Zeug recht nahe an die Leute kommen muss, und in ihrem Zustand wäre es nicht besonders klug, sich noch einmal unter die Kämpfenden zu mischen.

Nachdenklich schaut sie sich in der Kabine um. Dann grinst sie. Rasch nimmt sie eine Lederschleuder von einem der Regale. Damit könnte sie das Fläschchen aus der Treppenluke heraus weit unter die Kämpfenden schleudern. Beim Aufprall würde es zerbrechen und das feine Pulver in einem großen Umkreis verteilen. Und wer immer das dann einatmete...

Mit einem Seufzen steckt sie die Schleuder gedankenverloren in ihre Gürteltasche. Das klingt gut, funktioniert aber nicht. Um die Steinschleuder zu benutzen, müsste sie zwei gesunde Hände haben. Anscheinend bleibt ihr wirklich nichts anderes übrig, als noch einmal da rauszugehen, wenn sie ihren Plan umsetzen will. Und das gefällt ihr überhaupt nicht.

Resigniert steckt Chumana den Dolch in die Scheide und nimmt das unscheinbare Fläschchen in die Hand. Dann geht sie zur Tür.

Lurekar, der Chumana gerade interessiert durch einen Spalt beobachtet, weicht schnell ein paar Schritte zurück, als er sie auf die Tür zukommen sieht.

Chumana schaut ihn lauernd an, als sie den Grauen noch immer im Flur stehen sieht. Der Kerl wird doch wohl nicht...
Sie beschließt, sich später darüber Gedanken zu machen, was der Kangee getan hat oder nicht. Von oben dringen immer noch heftige Kampfgeräusche herunter. Zögernd geht sie zum Fuß der Treppe. Ob sie das wirklich wagen soll?

Nachdenklich dreht sie sich zu Lurekar herum.

„Wie gut kannst du eigentlich mit einer Schleuder umgehen, Lurekar?“

„Perfekt.“, lautet Lurekars lapidare Antwort. Chumana schaut ihn erfreut an. „Obwohl ich es selbstverständlich nicht nötig hätte,“, fährt er fort, „irgendwelche Waffen zu benutzen, habe ich so viel Erfahrung mit ihnen sammeln können, dass ich mich getrost als den besten Schleuderschützen weit und breit bezeichnen darf.“

Chumanas Blick wird bei Lurekars Eigenlob wieder skeptisch. Aber sie hat eigentlich keine andere Wahl, als den Worten des Raben halbwegs Glauben zu schenken, wenn sie nicht noch einmal völlig ungeschützt da raus will.

„Dann kannst du dich gleich mal nützlich machen und dieses Fläschchen mit der Schleuder unter die Angreifer schießen.“ Mit diesen Worten hält sie ihm das Fläschchen entgegen.

Der Schwarzgekleidete nimmt es in die Hand. „Kein Problem!“, erwidert er, doch dann kommen ihm leise Zweifel. Prüfend betrachtet er das Gefäß, dann wandert sein Blick wieder zu der grünäugigen Schönheit. „Was ist da drin?“, will er von ihr wissen.

„Tollpulver!“, erwidert Chumana. „Ein nettes kleines Mittelchen, das die Sinne ein wenig verwirrt.“ Chumana zieht bei diesen Worten die Schleuder aus ihrer Tasche und gibt sie Lurekar.

„Na schön.“, grummelt der Musiker und untersucht mit prüfendem Blick die Lederschleuder. Er hat gesehen, wie Chumana sich die Schleuder aus dem Regal genommen hat, und weiß, dass sie einem Elfen gehören dürfte. „Elfische Arbeit.“, bemerkt er trocken, „Ich habe schon bessere Stücke gesehen. Aber es wird gehen.“

Verzweifelt versucht er sich zu erinnern, welche Technik sein ehemaliger Gefährte Dedalos, der berüchtigte Aufwiegler, mit seiner Schleuder einsetzte, um dem Dorfbüttel Dregfyrolus die Mütze vom Kopf zu schießen. Er legt das Fläschchen in den Riemen ein und wiegt es Probeweise in der Hand. Dann stellt er sich an den Fuß der Treppe, späht nach oben, wirbeld die Schleuder schnell herum, und schießt das Fläschchen in hohem Bogen an Deck. Trotz des Kampflärms ist am Splittern zu hören, dass das Fläschchen wohl irgendwo zersprungen ist. Heilfroh, dass er sich nicht blamiert hat, dreht Lurekar sich zu Chumana herum.

„Wirklich gut und so schnell“, spricht Chumana ihn an. „Eigentlich hatte ich ja vor, die Elfen vorher noch zu warnen, das Zeug nicht einzuatmen, aber es wird auch so seine Dienste tun.“

Last edited by Namara; 01/02/07 03:42 PM.