Auch der junge Galef ist beim Auslösen des Alarms in den Versammlungsraum gelaufen. Die Nachricht des Piratenangriffes setzt in ihm ganz andere Ängste als in den meisten anderen Magiern frei.
'Ernestine!' durchzuckt es ihn siedend heiß, 'Sie hat heute ihren freien Tag und besucht ihre Eltern!' Die Eltern der hübschen Bediensteten wohnen in einem der kleinen Gässchen, die zum Hafen führen. Und am Hafen waren die Piraten! Sein Gesicht wird aschfahl, die Knie knicken unter ihm ein und er hat plötzlich das Gefühl, als würde ihm ein schweres Gewicht auf der Brust die Luft zum Atmen nehmen. Übelkeit steigt in ihm auf, und der junge Magierlehrling muss sich an einem Pfeiler im Saal abstützen, um nicht zusammenzusacken.
"Alles in Ordnung?" Ein anderer Lehrling berührt Galef an der Schulter und blickt ihn forschend an. "Du siehst aus, als hättest du plötzlich einen leibhaftigen Dämonen gesehen!"
"Es ist nichts!" keucht Galef und hebt abwehrend die Hand. "Mir geht es gut!"
Schulterzuckend wendet sich der andere Lehrling wieder den streitenden und debattierenden Magiern im Saal zu.
'Ich muss zu ihr! Ich muss... ich muss... ich muss ihr helfen! Sie schützen! Sie retten!' Die Gedanken in Galefs Kopf überschlagen sich. Er hört nicht die Stimme des Ratsvorsitzenden, die zur Ruhe mahnt. Nur ein kurzes Zögern - dann fährt der Lehrling herum und rennt aus dem Saal, dem Ausgang entgegen. Ganz sicher würde er Ärger bekommen, wenn er einfach auf eigene Faust handelte. Vor allem, wenn er es einer Angestellten wegen tat. Einfach die Akademie verlassen, ohne zuallererst die zahlreichen wertvollen Artefakte zu sichern, und das auch noch ohne ausdrückliche Zustimmung eines älteren Magiers... das würde mehr als eine Ausgangssperre für ihn bedeuten. Weit mehr!
"Halt!" ruft ihn einer der beiden Kampfmagier am Tor an. "Bleib drin! Draußen ist die Hölle los!" Glücklicherweise ist der Mann mit einem Brandherd zu sehr beschäftigt, um ihm auch noch den Weg zu versperren.
"Galef! Warte!" ruft er ihm stattdessen kopfschüttelnd hinterher. "Du rennst in dein sicheres Verderben!"
Doch der Lehrling ist für Vernunft nicht mehr zugänglich. Die Sorge um seine Freundin treibt ihn voran. Dabei hätte es nur ein kleines Abenteuer sein sollen, so wie die vielen anderen Frauen zuvor! Doch bei Ernestine... ihr weiches Haar, ihr fröhliches Lachen, ihre schelmischen Blicke... und ihr Lächeln, ihr Lächeln! Galef wollte es sich nicht eingestehen, doch dieses Mädchen hatte sein Herz berührt. Mit ihr war es ganz anders als mit anderen Frauen, mit denen er quasi nur im Vorbeigehen die Früchte der Lust gekostet hatte.
Erneut schluckt der Magieanwärter. Wenn ihr nur nichts geschehen war! Er kann sich gut vorstellen, was die Piraten einem so hübschen Mädchen antun mochten. Verdammt sei seine Phantasie, die ihm solch schreckliche Bilder vorgaukelt! Er hat keinen Blick für die Rauchsäulen, die überall in der Oberstadt aufsteigen, und rücksichtslos drängt er sich durch die ihm entgegeneilenden, fliehenden Bürger durch.
Als er in die schmale Gasse einbiegt, wird er kurz von mehreren Männern und Frauen aufgehalten, die mit Bögen bewaffnet sind und offenbar dabei sind, die Gasse zu verbarrikadieren.
"Geht nicht weiter, Herr! Weiter hinten sind Piraten!"
Galef hält kurz inne. Seine Beine fühlen sich an, als hätte sie jemand brutal in die Länge gezogen, und in seiner Lunge scheint ein wildes Feuer zu brennen.
"Ich... muss... weiter..." keucht er. Eine Strähne des sorgfältig gepflegten Haares hängt ihm schweißverklebt ins Gesicht, sein Umhang aus erlesener Seide ist an mehreren Stellen zerrissen und dunkle Schweißflecke breiten sich durch den kostbaren Stoff aus. Von dem Schönling, der mit solcher Inbrunst sein Spiegelbild zu betrachten pflegt, ist momentan nicht mehr viel zu erkennen.
Eine Frau in mittleren Jahren blickt ihn mitleidig an. "Ihr solltet besser hier bei uns bleiben Herr! Ihr seht nicht gut aus - verzeiht meine Offenheit!"
Wortlos schüttelt Galef den Kopf. "Das... kann ich... nicht!" Er taumelt an den Bogenschützen vorbei und ignoriert deren weitere, fast beschwörende Rufe, mit denen sie ihn zum Umkehren bewegen wollen, die jedoch verstummen, als er um die nächste Ecke biegt.
Die Gasse ist nun menschenleer und erstreckt sich mit mehreren Windungen ohne Abzweigung zum Hafen. Sie bietet genügend Platz für einen Pferdekarren, ist jedoch zu schmal, diesen zu wenden. Findige Wächter hatten sie daher nur für den Transport Richtung Hafen freigegeben, weshalb die Gasse unter den Anwohnern nur noch "Eine Bahn Gasse" genannt wurde.
Der begabte Lehrling wird langsamer, als er laute, unflätig fluchende Stimmen und rohes Gelächter von vorne vernimmt. Piraten! Er drückt sich in eine der zahlreichen Nischen. Tatsächlich tauchen einige wilde Gestalten auf, die laut lachend ihre Säbel schwingen. Noch haben sie den jungen Mann nicht bemerkt.
'Was nun?' durchzuckt es Galef, und schlagartig begreift er die Sinnlosigkeit seines überstürzten und ungeplanten Aufbruchs. Er beherrscht praktisch keinen Kampfzauber, und diese harten Geselle würden sich wohl kaum von der Illusion eines Blumenstraußes beeindrucken lassen! Und außerdem raste noch immer sein Herz - ein Wunder, dass die Piraten nicht längst durch das wilde Schlagen des durch den Lauf gemarterten Organs auf ihn aufmerksam geworden waren! Wie sollte er da einen vernünftigen Zauber wirken? Entsetzen breitet sich ihn ihm aus. Es war wirklich keine gute Idee, hierher zu kommen! Die Piraten würden ihn mit ihren Säbeln kurzerhand in Stücke hauen!
'Was soll ich nur tun, was soll ich tun, was... was...' durchfährt es ihn immer wieder, doch die Angst lähmt seinen Verstand und lässt ihn keinen Entschluss fassen.
Das Wiehern eines Pferdes dringt von irgendwoher schwach an seine Ohren. Ein fast irres Grinsen breitet sich über das Gesicht des Lehrlings aus. Die Gasse wird häufig von Pferdefuhrwerken benutzt, aber kaum jemand kümmerte sich um ihre Reinigung...
Johram war über seinen kleinen Scherz mit dem fremden Waldläufer wirklich verärgert gewesen. Aber... Nun, warum eigentlich nicht? Ein Versuch konnte sicher nicht schaden...