Morpheus’ zitternde Hände verkrampfen sich um den Leinensack, in dem er das Nötigste zusammengerafft hat. Ein wenig Kleidung, alchimistische Utensilien und Zutaten und ein Beutelchen Goldmünzen, das er aus den Truhen des Schatzmeisters entwendet hat, die Gunst des Durcheinanders ausnutzend. Wie gern hätte er noch mehr mitgenommen, aber die anderen Kisten waren gut geschützt und für aufwändige Zauber war keine Zeit geblieben. So musste er sich mit dem wenigen begnügen, das Dagobert ungeschützt gelassen hatte, als alle in den Versammlungssaal strömten.

Morpheus’ Blick fällt auf das kleine Stück Pergament auf dem Schreibtisch seines Laborraums. Eine Taube hat es ihm gebracht. Die Nachricht ist kurz und knapp:

Entweder du sorgst dafür, dass die Akademie von innen heraus geschwächt wird, oder ich werde dir für jede Münze, die du mir schuldest, einen Knochen brechen.

Das Zittern von Morpheus’ Händen wird stärker und dem hageren, verlebt wirkenden Mann steht der Schweiß auf der Stirn. Fettige Haare fallen ihm ins pickelige Gesicht. Er glaubt kaum, dass er es überleben würde, wenn Glatze ihm 1000 Knochen bricht. Nicht dass er überhaupt so viele hat, aber Glatze hätte durchaus seinen Spaß daran, einen bereits gebrochenen Knochen noch einmal zu zertrümmern.

Er verflucht den Tag, als er sich von dem Piraten Geld geliehen hat. Aber was war ihm anderes übrig geblieben? Diese bornierten alten Moralapostel hielten überhaupt nichts davon, Geld in die Erforschung unglaublicher Wahrheiten der Natur zu investieren. Dabei hatte ihm das Elixier, das zur Schmerzlinderung von Schwerstverwundeten benutzt wurde, so fantastische neue Einblicke in die Natur und Magie gewährt. Wenn er sein Bewusstsein mit dem Elixier erweiterte, konnte er das Zusammenspiel aller Dinge um ihn herum in den schillerndsten Farben beobachten und so die unglaublichen Wahrheiten und Zusammenhänge allen Lebens erforschen. Ja, er konnte sich sogar mit Bäumen, Tieren und Steinen unterhalten.

Aber das konnte er schlecht den alten Geizhälsen von Professoren erzählen, die er seine Kollegen nannte. Das weiße Pulver war in Rechem verboten und bei den Magiern als schädlich verpönt. Nur ein ganz winziger Teil davon wurde in gut abgeschlossenen und gesicherten Truhen für Notfälle aufbewahrt. Und auch dann durfte daraus nur mit Einwilligung des Magistrats das Elixier gefertigt und benutzt werden. Also musste er sich das Zeug teuer auf dem Schwarzmarkt kaufen, um seine Studien weiterzuführen. Er wird es ihnen allen noch zeigen, was er für ein genialer Wissenschaftler ist, und auch diesem Glatzkopf. Wenn er erst einmal mächtig, berühmt und reich ist, wird er es ihnen allen noch heimzahlen, dass sie ihn immer so schlecht behandelt haben.

Letztens hatte er sogar eine Abmahnung bekommen, weil er seine Unterrichtsstunde versäumt hatte und Crystal nichts Besseres zu tun hatte, als ihn gleich zu verpetzen. Was gingen ihn denn diese Grünschnäbel an? Die würden sowieso nie lernen, einen Heiltrank vernünftig zu brauen. Seine Studien, das war es, was zählte. Aber Crystal würde es noch bedauern. Bevor er von hier fortginge, und etwas anderes bliebe ihm ja nicht übrig, wenn er Glatzes Forderung nachgekommen wäre, würde er dafür sorgen, dass Crystal noch mächtig Probleme bekäme.

Schnell packt er noch das wertvolle Glas mit dem Pulver aus seinem Geheimfach in den Sack und zwei kleine Phiolen von dem fertigen Elixier. Dann nimmt er die drei unscheinbaren Fläschchen mit den Stoffstreifen im Flaschenhals vom Labortisch, die er vorbereitet hat. Die normalen Feuer können die Magier ohne Probleme löschen, aber dieses Feuer würde ihnen ordentlich Probleme bereiten. Die dunkelbraune, stinkende Substanz hatte er ebenfalls von den Schmugglern auf dem Schwarzmarkt erworben. Wegen ihrer Brandeigenschaften war sie vom Magistrat verboten worden. Mit Wasser nahezu unlöschbar, und magisch verstärkt auch durch Eiszauber nicht einzudämmen, würde sie eine Menge Schaden anrichten und die Magier auf Trab halten. Und wer Feuer löscht, kann sich nicht um andere Dinge kümmern.

Morpheus zögert noch einen Moment. Zu gerne würde er einen kleinen Schluck des Elixiers nehmen, aber das muss noch warten, bis er die Akademie verlassen hat. Er braucht Ruhe, um sich seinen Studien hinzugeben. Mit einem letzen Blick auf die Nachricht verlässt er den Raum und geht unbehelligt hinunter in den Versammlungssaal, sich tausend Ausreden überlegend, wie er die Magier kurz von dort weglocken kann.

Verstohlen wirft er aus einem sicheren Versteck heraus einen Blick in den Versammlungsraum. Der Vorsitzende und die Kampfmagier haben sich palavernd in die Räume der Fakultät für arkane Kampfkunst zurückgezogen, aber die Kugeln sind immer noch von der Greisenfraktion belagert. Mit diesen senilen Alten wird er wohl noch fertig werden.

Aufgeregt stürzt er in den Saal und schreit: „Die Kräuterkammer hat Feuer gefangen und der Vorsitzende will, dass alle bei der Brandbekämpfung und Bergung der Kräuter helfen, bevor die Flammen die wertvolle Ware vollends zerstören.“

„Meine Kräuter!“, Alraune verlässt den Saal so schnell, wie es ihr Morpheus mit ihren 79 Wintern gar nicht mehr zugetraut hätte, gefolgt von dem alten Vincente, der ihr wie ein Hündchen überallhin folgt. Zwei weitere der Alten gehen zögernd hinterher. So ganz sicher scheinen sie nicht zu sein, was sie von dem neuen Befehl halten sollen. Nur der alte Vladimir bleibt stur an seinem Platz und schaut Morpheus aus seinen stechenden Augen an.

„Du behauptest also, dass wir unseren Posten verlassen sollen? Ich trau dir nicht, Morpheus. Auch wenn ich nicht weiß, was du damit bezweckst, bin ich ziemlich sicher, dass du lügst.“ Der alte Professor für Beherrschung stützt sich schwer auf seinen Stock, während er langsam auf Morpheus zugeht. „Aber diesmal gehst du zu weit, Morpheus. Diesmal wird es dich deinen Job kosten. Der Vorsitzende hat viel zu lange Milde mit dir walten lassen. Du bist wahrlich ein Schandfleck für diesen Ort der Lehre und des Wissens.“ Bei diesen Worten fuchtelt Vladimir wild mit seinem Stock vor Morpheus’ Nase herum.

Aufgeblasener Greis, denkt Morpheus bei sich. Die Worte des Alten versetzten ihn in Wut und von dem durchdringenden Blick und dem Gefuchtel des Stockes vor seinen Augen fühlt er sich in die Enge gedrängt. Ohne groß nachzudenken, greift er nach dem Stock und entreißt ihn dem Alten.

Dieser macht erschrocken einen Schritt rückwärts und schaut Morpheus irritiert an. So gefällt mir das schon besser, denkt Morpheus. „Ich bin also eine Schande für diese Akademie, ja?“ Morpheus schlägt mit dem Stock auf den alten Mann ein, der vor Schreck nur ein Keuchen von sich gibt und schützend die Arme vor das Gesicht hält. „Die einzige Schande hier ist Eure verdammte Borniertheit. Euer Geiz und Eure Rückständigkeit. Ich werde es Euch allen zeigen, jawohl. Ich werde zu Ruhm und Ehre mit meinen Forschungen gelangen und dann werdet Ihr im Staub vor mir kriechen, Ihr Würmer.“ Mit jedem Wort prügelt Morpheus weiter auf den alten Mann ein, der bereits durch den zweiten Schlag von den Beinen gerissen wird und schwer zu Boden stürzt. Trotzdem schlägt Morpheus weiter auf ihn ein. Erst nach einer Weile fällt ihm auf, dass der Alte sich weder wehrt noch irgendein Geräusch von sich gibt. Und um seinen Kopf herum sieht er eine große, dunkle Pfütze die sich auf dem hellen Steinboden ausbreitet. Der alte Mann hat sich durch den Aufprall den Schädel aufgeschlagen.

Morpheus atmet tief durch, um sich wieder zu beruhigen. Sich nervös nach allen Seiten umsehend, ob ihn auch keiner beobachtet, wirkt er einen Verkleinerungszauber auf die Kugeln und steckt so viele Kristallkugeln ein, wie er tragen kann. Nur die drei größten muss er hier lassen. Sie sind zu gut geschützt, um verzaubert zu werden, und auch zu schwer, um sie alleine wegzutragen. Aber die kleineren und die Reisekugeln aus den Regalen werden ihm ein gutes Sümmchen auf dem Schwarzmarkt einbringen. Hämisch grinsend stellt er sich vor, wie der Mistkerl Crystal, der für die Wartung und den Schutz der Kugeln verantwortlich ist, den Verlust einiger der wichtigsten Artefakte dem Magierrat erklären muss. Und wenn er Glück hat, wird die Hitze des Feuers die restlichen Kugeln zum Zerspringen bringen.

Schnell geht er zum Ausgang und zündet dann einen Brandsatz an, um ihn in den Saal zu schleudern. Binnen Sekunden steht der holzvertäfelte Raum in Flammen. Auch die Holzgestelle der Seherkugeln brennen bereits lichterloh, genau wie die Leiche des alten Vladimir. Zitternd starrt Morpheus sekundenlang auf das Inferno. Dann hört er Schritte, reißt sich von dem entsetzlichen Bild los und rennt die Hintertreppe zu den unteren Stockwerken hinunter.

Einen zweiten Brandsatz zündet er im Treppenflur, auf seinem Weg zur Bibliothek. Auch die alten Holzstufen sind ein gefundenes Fressen für die Flammen. In der Bibliothek herrscht im Gegensatz zu oben schon mehr Betrieb. Einige Schüler sind dabei, die Bücher in Sicherheit zu bringen. Aber niemand achtet auf ihn, als er schnell in einem der alten Gänge verschwindet, den letzten Brandsatz hinter sich in die Bibliothek werfend, wo er sofort großes Chaos auslöst und den Schreien nach zu urteilen, auch einige Verletzte fordert.

So rasch ihn seine Beine tragen können, rennt Morpheus den Gang entlang. Erst als er Seitenstechen hat und kaum noch Luft bekommt, hält er an. Die halbe Strecke in die Freiheit hat er hinter sich und bisher ist ihm keiner gefolgt. Und da die Magier beschäftigt sind, wird das auch noch eine Weile so bleiben.

Zittrig holt er eine der Phiolen hervor. Er hält es nicht mehr ohne aus. Er hat bereits Magenkrämpfe und der Schweiß, der ihm jetzt in kleinen Rinnsalen von der Stirn läuft, kommt nicht nur vom Rennen. Er braucht jetzt das angenehme Gefühl, ein Teil des Ganzen zu sein, sonst wird er wahnsinnig. Seine zitternden Finger haben Schwierigkeiten, den Verschluss des Fläschchens zu öffnen, aber endlich schafft er es, die Phiole zu den Lippen zu führen, und nimmt einen kräftigen Schluck. Langsam macht er sich wieder auf den Weg, während sich seine Nerven unter dem Einfluss des Elixiers allmählich beruhigen. Seinem Magen geht es wieder gut und das Zittern seiner Finger hört endlich auch auf.

Er muss noch zwei Abzweigungen weiter und dann nach rechts. Noch um eine Kurve herum, und schon steht er im Wald und kann sich aus dem Staub machen. Nach Süden wird er gehen. Dort ist es schön warm und die Vorschriften für Alchemie sollen nicht so streng sein, hat er gehört.

Das Elixier beginnt zu wirken. Ein prächtiges Farbenspiel geht nun von den grauen Steinwänden aus und die hallenden und tropfenden Geräusche des alten Ganges vereinen sich zu einer lieblichen Musik. Wie gebannt starrt er auf einen farbigen Nebel an der Decke, der immer wieder eine andere Form annimmt und ihn anscheinend auffordert, ihm zu folgen. Gebannt läuft er der Erscheinung hinterher.

Er merkt nicht, dass er an der Abzweigung vorbeigeht und immer tiefer in einen der ältesten und baufälligen Gänge gerät. Einen Gang, der eher an einen Stollen erinnert mit Wänden aus Lehm und Steinen, die von Holzpfeilern und Brettern gestützt werden. Immer schneller folgt er dem seltsamen Nebel, bis er ins Straucheln kommt und stürzt. Im Fall versucht er sich an einem der Stützpfeiler des Ganges festzuhalten, aber das morsche Holz zerbröckelt unter seiner Hand. Das letzte, was Morpheus wahrnimmt, ist ein seltsam misstönendes Knirschen in der Musik um ihn herum, bevor der Gang über ihm zusammenstürzt.


Last edited by Namara; 08/02/07 10:33 PM.