Edmund wischt sich mit den verbrannten Händen den Schweiß aus dem rußigen Gesicht und schaut sich in der Flammenhölle um. Das ganze Viertel brennt lichterloh. Von der Stadtmauer im Norden bis zur großen Hafenstraße im Süden, wo die Speicher des Hafens beginnen, und von der Färbergasse im Osten, die an das Bettlerviertel anschließt, bis zum Wächterviertel mit der Wachstube im Westen, ist Rechem ein einziges Flammenmeer. Wenn es doch nur regnen würde. Verzweifelt blickt der Leiter der Brandwehr und Vorsitzende der Handwerkszunftvereinigung zum Himmel. Aber kein einziges Wölkchen zeigt sich am Firmament. Nur der starke Wind fährt ihm fast höhnisch ins Gesicht und facht die Flammen noch mehr an. Der blutige Feuerreigen um ihn herum konkurriert mit dem sich bereits rötlich färbenden Abendhimmel.
Trotz des Tuches vor Mund und Nase dringt der beißende Rauch in seine Lungen und löst immer wieder heftige Hustenattacken aus. Der Gestank von verbranntem Holz, Haar und Fleisch lässt ihn würgen. Viel zu viele Bürger haben sich zu lange in den Häusern verschanzt und sind dann ein Opfer von Rauch und Flammen geworden. Und zu viele irren völlig ziel- und hilflos durch die Straßen und werden auch ein Opfer von Rauch, Flammen oder herabstürzenden Trümmern. Der Kampf gegen den Brand ist einfach hoffnungslos. Die Holzhäuser stehen viel zu dicht beieinander und die Verschläge im Bettlerviertel werden bald auch Feuer fangen. Die notdürftigen Baracken werden noch viel schneller abbrennen als die Häuser des Arbeiterviertels. Und die Fachwerkbauten im Wächterviertel und im Hafen werden auch nicht zu löschen sein, wenn sie erst einmal Feuer fangen, was viel zu bald geschehen wird.
Es gibt einfach nicht genügend Wasserstellen in der Nähe der Häuser und helfende Hände. Auch wenn fast alle Zunftmitglieder der Handwerker, die nicht an den Kämpfen beteiligt sind, mit ihren Leuten auf den Ruf des Brandhorns reagiert haben, reichen die Kräfte einfach nicht aus. Und viele Helfer sind noch zu jung oder bereits zu alt. Im Morgengrauen ist wahrscheinlich nicht viel mehr von Rechem übrig als ein Haufen Asche.
Das Klappern von Hufen und das Rattern von schweren Wagenrädern lenkt seine Aufmerksamkeit auf die Hafenstraße. Welcher Idiot versucht denn jetzt sein Hab und Gut schon mit Fuhrwerken zu retten?, geht es ihm durch den Kopf. Unbändige Wut durchfährt ihn. Viel zu viele Bürger denken in diesen Notzeiten nur an sich und ihre Habe, anstatt sich in den Kämpfen oder der Brandwehr zu betätigen und zu retten, was noch zu retten ist. Er hat nicht wenig Lust, de Kerl zusammenzuschlagen, um seine Hilflosigkeit und Frustration loszuwerden.
„Hey, Edmund, was schaust du so finster? Dabei solltest du dich doch freuen, noch ein paar helfende Hände zu bekommen.“
Die Stimme seines Bruders reißt Edmund aus den finsteren Gedanken. „Was bei Undar machst du denn hier“, erwidert er verdutzt. Sein Bruder hat durch Heirat ein sehr schönes Gehöft außerhalb von Rechem geerbt und Edmund hat nicht erwartet, einen der Gutsleute und Bauern in der brennenden Stadt zu sehen. Edmund betrachtet den Wagen genauer. Den Wagen? Nein, es sind vier große Erntewagen, vor die jeweils vier kräftige Ackergäule gespannt sind. Auf einem der Wagen sitzen einige Bauern und Knechten des Umlandes , die drei anderen Wagen mit Sandsäcken, Werkzeugen und Wasserfässern beladen.
Die Männer springen bereits vom Wagen und stellen sich vor ihm auf. Anscheinend sind sie unsicher, was sie jetzt am besten tun sollen. Und eigentlich muss auch jedem beim Anblick des brennenden Viertels klar sein, dass hier nichts mehr zu retten ist. Ein Wunder, dass die Häuser des Hafenviertels noch nicht Feuer gefangen haben, geht es Edmund durch den Kopf, während hinter ihm ein weiteres Haus donnernd und mit zischendem Funkenhagel zusammenbricht. Obwohl?, er betrachtet die breite Hafenstraße, welche die Häuser des Arbeiterviertels vom Hafenviertel trennt. Eine der größten in der Stadt, auf der bequem zwei Fuhrwerke aneinander vorbeipassen und noch genug Platz an den Seiten für Fußgänger ist. Eine breite Bresche zwischen den Häusern.
Edmunds Gedanken überschlagen sich. Bisher haben sie sich darauf konzentriert, bereits brennende Häuser zu löschen. Ein meist aussichtsloses Unterfangen. Vor allem, da im allgemeinen Chaos ein Brand meist erst dann bemerkt wird, wenn das Haus schon lichterloh brennt. Und es gibt auch zu viele Brände, um sich um alle zu kümmern. Was aber, wenn man die Prioritäten anders setzt? Das Ganze besser koordiniert?
Während er mit dem Brandhorn das Signal zum Sammeln für die Helfer gibt, entwirft er bereits einen Schlachtplan. Ich werde dafür sorgen, dass die Väter, Brüder, Söhne und Anverwandten nicht nur für Ruinen ihr Leben und Blut im Hafen lassen. Rechem wird die Piraten und den Brand überstehen, und wenn es das Letzte ist, was ich, mit Undars Hilfe, auf dieser Welt tue.
Es überrascht ihn, dass innerhalb weniger Minuten fast alle Helfer vor ihm stehen. Aber der verzweifelte und hoffnungslose Ausdruck in ihren Augen zeigt auch schnell, warum. Die meisten haben bereits alle Hoffnung aufgegeben und glauben, dass der Kampf gegen die Flammen jetzt aufgegeben wird. Aber der Kampf fängt gerade erst an. Und bei Undar, sie werden ihn gewinnen.
„Paule!“, Edmund wendet sich an seinen jüngsten Lehrburschen. Der Kleine hat ihn schon oft zur Weißglut gebracht, weil er seine Zeit lieber damit verbringt, auf jeden Baum, Haus, Fels zu klettern, als seine Arbeiten zu erledigen. Aber heute wird das erst 10 Sommer alte Bürschchen sich mal als nützlich erweisen. „Du kletterst auf das Speicherdach des alten Samuel. Von dort kannst du die ganze Oststadt überblicken. Peter, Klaus und Hans, ihr geht mit ihm.“ Ernst schaut er in die verdreckten und verbrannten Gesichter der jüngsten Brandhelfer. „Paule wird euch sagen, wenn irgendwo neue Brandgeschosse einschlagen oder Brände erkennbar sind. Ihr werdet die Nachrichten dann an mich weiterleiten, verstanden? Was steht ihr hier noch dumm rum, nehmt die Beine in die Hand.“
„Wolfram“, Edmund wendet sich an den Maurermeister, während die Kleinen davonrennen. „Du nimmst die Zimmerleute und Schreiner mit und reißt die erste Reihe mit Fachwerkhäusern im Wächterviertel ein. Nehmt ein paar Pferde mit, die können helfen. Beseitigt die größten Trümmer und bedeckt den Rest mit Sand, um eine Feuerschneise zu schaffen. Sollte einer der Bewohner Ärger machen, dann stellt ihn ruhig. Wie ihr das macht, ist mir egal. Auf Einzelschicksale können wir keine Rücksicht mehr nehmen, wenn wir noch irgendwas retten wollen. Maria und Paul, ihr geht auch mit euren Leuten dorthin. Ihr befeuchtet die dahinter liegenden Häuser gut, vor allem die Reetdächer, und helft beim Beseitigen der Trümmer, wo es nötig ist.
Zacharias, Roland, Wulf, ihr nehmt eure Leute und macht das Gleiche im Bettlerviertel. Lea und Anette gehen mit ihren Leuten mit und sorgen dafür, dass die dahinter liegenden Häuser geschützt werden.
Jakob“, Edmund wendet sich an den Ältesten der Nachtwächter. „Du gehst mit deinen Leuten durch die Straßen. Läutet eure Glocke und verkündet, dass alle Bürger, die gesund und kräftig sind, sich hier bei mir zu melden haben. Verkündet, dass alle Bürger, die ihrer Verpflichtung, der Stadt in Notzeiten ihre Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen, icht nachkommen, an den Magistrat gemeldet werden und mit Strafe zu rechnen haben. Macht den Drückebergern ruhig ordentlich Angst. Die anderen, die schwach, krank, alt oder zu jung sind, sollen sich im Tempel oder der Wachstube in Sicherheit bringen. Und zwar ohne ihr gesamtes Hab und Gut mitzunehmen
Ignatz, du nimmst ein Fuhrwerk und deine Knechte und holst noch mehr Sand.
Gideon, du bist der schnellste. Renn rüber in den Westteil der Stadt und suche Emmerich, der dort die Brandwacht mit den Händlern organisiert. Schau, wie es dort aussieht. Sag ihnen, wie wir hier vorgehen, falls sie ähnliche Probleme haben oder bekommen und melde es, wenn Brände aus der Richtung drohen, auf die östlichen Regionen überzugreifen, damit wir gegebenenfalls weitere Schneisen anlegen.“ Edmund hofft, dass es im Westteil besser aussieht. In den wohlhabenderen Stadtteilen sind die Häuser nicht ganz so dicht gebaut und haben teilweise sogar Gärten. Die Straßen sind breiter und besser und es gibt mehr Brunnen und Plätze.
„Klemens“, jetzt bereits wieder hoffnungsvoll lächelnd, wendet er sich an seinen Bruder, „du nimmst die restlichen Bauern und schützt die erste Häuserreihe im Hafenviertel. Und die Knechte und der Rest meiner Leute teilt sich in drei Gruppen auf und bildet Eimerreihen zwischen denen, die an den Häusern arbeiten, und den viel zu wenigen, weit abseits liegenden Wasserstellen.“
Wild entschlossen, den Kampf gegen die Flammen zu gewinnen, nimmt Edmund seinen Platz unter den Brandhelfern ein. Diese Stadt wird überleben. Und wenn ich die kommende Nacht auch überlebe, dann werde ich mal mit dem Magistrat ein ernstes Wörtchen über die unvernünftige Art der Bebauung und die unzureichende Versorgung mit Wasser in gewissen Stadtteilen wechseln.
Und auch wenn es meistens nur kleinere Brände in der Stadt gibt, die oft von den Anwohnern schon gelöscht sind, bevor ich überhaupt davon erfahre. Ich werde dafür sorgen, dass die Brandwacht in Zukunft genau weiß, was wann wo zu machen ist. Ich werde auch dafür sorgen, dass Brandmeldungen schneller weitergegeben werden können. Vielleicht sollte man Feuerglocken in den Stadtteilen aufstellen? Und auch über vorsorgende Maßnahmen werde ich nachdenken. Edmund schaut interessiert zu einem Wagen mit Wasserfässern und Sandsäcken hinüber. [i]Die Brandwacht wird nie mehr einfach nur ein Wort auf einem Pergament sein, das im Stadtarchiv vor sich hingammelt. Bei der Größe Undars, ich schwöre, dass Feuer nie wieder in meiner Stadt so großes Unheil anrichten wird.