Chumana schaut sich an Deck des Elfenschiffes um. Die Verwüstung ist erschreckend. Die Segel hängen nur noch in Fetzen, einige Masten sind beschädigt und an mehreren Stellen sind die Schiffsplanken von den Geschossen aufgerissen worden. Überall liegen Trümmer herum und dazwischen Leichen und Verletzte. Sie kann auch einige Personen ausmachen, die unter dem Einfluss der Droge stehen und jetzt erschöpft mit halb geschlossenen Augen auf den Planken sitzen. Morgen wird es eine hohe Nachfrage an Medizin gegen Kopfschmerzen geben.
Die meisten Elfen sind nach der Eroberung des Piratenschiffes wieder auf das Schiff zurückgekehrt. Einige stehen unschlüssig herum und warten auf weitere Befehle, andere versuchen sich nützlich zu machen, aber die unkoordinierten Hilfsmaßnahmen verbreiten eher Chaos. Chumana schaut sich die Elfen genauer an. Die meisten haben Wunden davongetragen, und viele Gesichter sind vom Schock gezeichnet. Ein Elf läuft sogar mit einer klaffenden Wunde im Rücken herum, ohne es zu bemerken. Wenn er nicht bald versorgt wird, dürfte er verbluten. Chumana setzt sich in Bewegung, um dem Elfen medizinisch beizustehen, sieht aber, wie die Elfe, die sie auf der Treppe getroffen hat, schon zu ihm geht. Sie scheint ein paar Probleme zu haben, dem Verwundeten klar zu machen, dass er dringend versorgt werden muss, kann ihn dann aber mit Hilfe von Lurekar doch zu der Stelle bringen, wo sie ihre Verbandsmaterialien und Kräuter bereithält.
Chumana schaut auf die Toten und Verletzten, die verteilt an Bord liegen. Jemand sollte dafür sorgen, dass hier Ordnung geschaffen wird.
„Der Herd in der Kombüse ist aus. Wir haben kein heißes Wasser.“ Eine kleinlaute Stimme hinter ihr reißt sie aus ihren Gedanken. Die Arme voll Decken und Verbandsmaterial, steht der Schiffsjunge einen Schritt von ihr entfernt und lächelt sie unsicher an.
„Dann muss es wohl ohne gehen. Leg das Zeug gleich mal hier ab und dann komm mit und mach dich nützlich, Kleiner.“ Chumana kniet sich vor den Elfen direkt neben ihr und fängt an, ihn zu untersuchen.
„Ich hab aber keine Ahnung vom Heilen.“ Die Stimme des Jungen klingt eindeutig ängstlich. Das Leiden seiner Landsleute und die vielen Toten setzen dem Burschen sehr zu. Trotzdem tritt er zögernd neben sie und kniet sich zu ihr neben den Verletzten.
„Dann wirst du es eben jetzt lernen. Genug Lehrmaterial ist ja vorhanden.“ Chumana hat keine Lust, jetzt Seelentrösterin zu spielen. Außerdem kann jede Sekunde darüber entscheiden, ob ein Verwundeter lebt oder in die Totenreiche geht. Und Beschäftigung wird dem Jungen schnell helfen, über seine Gefühle hinwegzukommen. Sie wird ihm schlicht keine Zeit lassen für Angst, Ekel oder andere Gefühle.
„Hier“, Chumana fasst mit der unverletzten Hand nach der Hand des Jungen und legt seinen Zeige- und Mittelfinger auf die Halsschlagader des bewusstlosen Elfen vor ihr. „Kannst du das fühlen? An dieser Stelle kannst du spüren, ob jemand noch lebt. Eine weitere Methode ist es, einen Spiegel vor sein Gesicht zu halten.“ Chumana nimmt ihre Spiegelschnalle vom Gürtel und hält sie dem Elfen vor Mund und Nase. „Siehst du, wie der Spiegel beschlägt? Gut! Wenn du keinen Herzschlag mehr spürst und der Spiegel blank bleibt, dann kannst du nichts mehr machen. Diese Personen bringen wir dort rüber.“ Chumana weist auf eine Stelle am Vorderdeck. „Hast du einen Spiegel bei dir?“
„Ja, wir geben uns damit manchmal vom Mast zum Deck hinunter Lichtsignale.“ Der Junge zieht einen kleinen Spiegel aus seiner Jackentasche. Er hat in den Kämpfen zwar einen Riss erhalten, aber für ihre Zwecke ist er ausreichend.
„Gut!“ Chumana fährt mit der Untersuchung des Elfen fort. „Hol jetzt ein Decke. Dieser Elf ist nicht so schwer verletzt. Er hat einen Schlag auf den Kopf erhalten, aber ich glaube nicht, dass er innere Verletzungen hat. Wir werden ihn auf eine Decke legen und zu der Elfe bringen, die bei der Treppe nach unten die Verwundeten versorgt. Ein paar kühle Kompressen und Ruhe sollten bei dem hier reichen.“
Gemeinsam mit dem Jungen schafft Chumana den Matrosen zu der Elfe hinüber, dann gehen sie zurück und untersuchen systematisch die herumliegenden Leiber. Die Toten schaffen sie mit Hilfe der Decke zu der Stelle am Vorderdeck, wobei der ein oder andere Geldbeutel, Ring oder Ohrring eines gefallenen Piraten in Chumanas Taschen verschwindet. Bei den Verwundeten leitet Chumana den Schiffsjungen an, Verbände anzulegen, Wunden abzubinden oder die Verletzten in besonderen Positionen zu lagern. Dabei nehmen die Kräuter- und Medizinvorräte in ihrer Gürteltasche weiter ab. Wer transportfähig ist, wird zu der Elfe gebracht, die schon bald einige andere Elfen damit beauftragt, die Versorgten unter Deck zu tragen.
Das Vorgehen von Chumana und dem Jungen bleibt nicht unbemerkt. Schon bald fangen andere Elfen an, es ihnen nachzumachen. Die Toten werden auf dem Vorderdeck aufgereiht, die Verletzten versorgt und dann unter Deck in die Kajüten gebracht. Bald schon ist das Chaos an Deck nicht mehr so groß.
Zufrieden sieht Chumana dem Jungen dabei zu, wie er ganz eigenständig einem der letzten Verwundeten einen Druckverband anlegt. Das Kerlchen mag nichts von Heilkunde verstanden haben, aber er hat eindeutig Talent.
„Wie heißt du eigentlich, Junge?“
„Man nennt mich Finglas von den Klippen.“ Der Junge schaut verwundert zu der Frau hoch, die bis jetzt nur barsche Befehle erteilt hat.
„Ich bin Chumana von den Tuvanasavi“, Chumana lächelt den Jungen an. „Das hast du gut gemacht,“ Chumana nickt zu dem Verletzten hinüber. „Du solltest dich weiter mit Heilkunde beschäftigen. Aber für heute reicht es. Geh jetzt und trink etwas und dann hole Trinkwasser für die anderen Helfer. Die meisten sind erschöpft und können sicher einen kühlen Trunk brauchen. Und wenn dein Kapitän keine weiteren Befehle für dich hat, dann geh schlafen. Das war Aufregung genug für einen Tag.“
Bei diesen Worten dreht Chumana sich bereits um und geht hinüber zu der Kapitänskajüte. Dass der Bücherwurm sich bis jetzt nicht gezeigt hat, beunruhigt sie. Der Kerl hat ein zu großes Talent, in Schwierigkeiten zu geraten, und irgendwie ahnt sie, dass er nicht mehr dort ist, wo er eigentlich sein soll.