Fassungslos starrt Dranner auf die panisch durcheinanderlaufenden Verteidiger der Stadt. Nahezu seine gesamte Reserve ist durch den unerwarteten Angriff der Miliz zerschlagen oder zerstreut worden! Ohne den Rückhalt der Reserven und ebenfalls durch die Reiter in Mitleidenschaft gezogen zerbricht die vorderste Linie der Wächter gleich an mehreren Stellen, und gruppenweise stürmen Piraten durch die entstandenen Lücken in die freigekämpfte Straße und von dort tiefer in die Stadt hinein. Hilflos und mit Tränen der Wut und Enttäuschung in den Augen muss der alte Feldwebel mit ansehen, wie einige einschlagende Katapultgeschosse und mehrere durchgehende Pferde jeden Versuch einer erneuten geordneten Verteidigung vereiteln. Sie hatten so dicht davor gestanden, den Kampf für sich zu entscheiden! Der Sieg schien mit dem Eintreffen der Ritter zum Greifen nahe zu sein – und nun hatte der katastrophale Angriff der Miliz binnen wenigen Augenblicken alles zunichte gemacht, wofür so viele gute Männer ihr Leben gegeben hatten!
Doch Dranner hat nicht länger Zeit, sich seiner Verzweiflung hinzugeben. Ein warnender Zuruf lässt ihn gerade noch rechtzeitig genug herumfahren, um dem wuchtig geführten Hieb eines schweren Entermessers zu entgehen. Doch der Pirat hält sich nicht länger damit auf, dem Wächter nachzusetzen, sondern stürmt weiter die Straße hinunter, das unbeschreibliche Durcheinander unter den Verteidigern ausnutzend, so wie etliche andere seiner Kameraden ebenfalls.
Inzwischen ist der Reiterangriff völlig zum Stehen gekommen. Die Miliz führt nicht die schweren, edlen Schlachtrösser, wie sie bei den Tempelrittern üblich sind, sondern leichtere und kleinere Pferde. Dazu kommt, dass weder Tier noch Reiter für einen solchen Angriff wirklich ausgebildet sind – etliche der Milizionäre können sich mit Mühe bei schnellem Tempo im Sattel halten. Was also versprach sich Carlo von diesem Angriff? Selbst wenn er den Verteidigern nicht in den Rücken gefallen sondern direkt auf eine Gruppe Piraten geprallt wäre – er hätte wissen müssen, dass sein Angriff letztendlich scheitern musste!
Dann erkennt Dranner plötzlich nur wenige Schritte entfernt die massive Gestalt Frollos. Der Leutnant blickt gerade mit ungläubigem Staunen auf etwas zu seinen Füßen, dass den Blicken des Feldwebels verborgen bleibt. Was tat Frollo hier? Hatte er den Reiterangriff zu verantworten? Und wo war Carlo?
Kalte Wut steigt in Dranner empor. Carlo war ein Mistkerl, aber er war zu intelligent, um einen solch verheerenden Angriff zu befehlen. Das war nicht die Handschrift des Hauptmanns der Miliz. Frollo dagegen war nicht nur skrupellos sondern auch dumm genug, um keine Gedanken an die Tragweite einer Reiterattacke zu verschwenden. Wenn Frollo hier war, dann musste es ihm irgendwie gelungen sein, Carlo auszubooten und selbst die Miliz zu übernehmen oder den Hauptmann zumindest zu dieser Aktion zu verleiten. Schlagartig erinnert sich der Wächter an die Anschuldigungen des Mannes am Hafen, der sich als Diener Janus’ ausgegeben und den Stadtrat, Carlo und Frollo schwer belastet hatte. Sollte Frollo mit diesem Angriff etwa die Absicht verfolgt haben, die Verteidiger zu schwächen und die Position der Piraten zu stärken?
Der Feldwebel riskiert einen Blick zu der verhassten Gestalt des Leutnants, der entschlossen und mit sichtbarer Freude am Kampf dem erneuten Ansturm der Piraten entgegentritt. Der grobschlächtige Mann hält sich nicht mit langwierigen Plänkeleien auf – seine Hiebe sind kraftvoll und tödlich. Nein, hinter dem verheerenden Reiterangriff steckte keine absichtlich gegen die Verteidiger gerichtete Aktion, sondern einfach nur Ignoranz und Dummheit.
Doch jetzt gibt es Wichtigeres zu tun, als über die Absichten des Leutnants nachzudenken. Hier ist weder die richtige Zeit noch der richtige Ort, um mit Frollo und der Miliz zu hadern. Immer mehr Piraten brechen durch die ausgedünnten Linien der Verteidiger und verschwinden irgendwo in den Straßenzügen hinter der Schlacht. Die Ritter, ihrer Rückendeckung beraubt und nun von allen Seiten angegriffen, geraten zunehmend in Bedrängnis. Sie versuchen nun, einen Verteidigungskreis mit den Priestern im Inneren zu bilden, von denen sich etliche inzwischen ebenfalls im Nahkampf befinden. Er wird jetzt hier gebraucht, bei seinen verzagenden Männern, die den Tag schon verloren glauben. Immer öfter richten sich ihre fragenden, zweifelnden Blicke auf "ihren" Feldwebel: 'Ist das das Ende? Sind wir besiegt?' Er darf sich nicht noch länger von seiner Wut auf Frollo und den Reiterangriff ablenken lassen. Die Männer vertrauen ihm, und sein Zögern würde ihnen den Mut vollends nehmen. Vielleicht ist der Tag noch zu retten, wenn er jetzt Entschlossenheit zeigt. Wenn er den Tag nicht verloren gibt, dann werden seine Männer ihm vielleicht folgen, dann mochten auch sie noch Hoffnung haben und daraus neuen Mut gewinnen. Innerlich verzweifelt, aber nach außen bemüht zuversichtlich versucht der erfahrene Feldwebel, die verlorengegangene Schlachtordnung unter den Wächtern wiederherzustellen, seinen Männern Mut zu machen und den Durchbruch der Piraten abzuriegeln. Zuerst muss die Verteidigung neu aufgebaut und die Initiative zurückerlangt werden. Alles andere kann vorerst warten.