Der kleinen, bereits stark geschrumpften Schar von Milizionären unter Dranner und Frollo bleibt nach dem plötzlichen Verschwinden des Piratenanführers nur wenig Zeit zum Atemholen. Noch immer wird ringsum erbittert gekämpft. Viele Piraten sind inzwischen nur noch bestrebt, dem tödlichen Kessel, zu dem der Hafen inzwischen geworden ist, zu entkommen. Etliche jedoch scheinen nicht gewillt zu sein, ihr Heil in der Flucht zu suchen. Beherrscht vom Blutrausch und einer unbändigen Mordgier hauen und stechen sie ohne Rücksicht auf ihr eigenes Leben auf die Verteidiger ein, um so viele der Rechemer wie möglich mit in den Tod zu nehmen. Die zum Teil völlig erschöpften Verteidiger haben zunehmend Mühe, sich gegen diese tierhaft brüllenden und konditionsstarken Gegner, in deren Augen pure Mordlust brennt, zu behaupten, und können daher kaum Vorteile aus der allmählich abnehmenden Zahl der Angreifer ziehen.
Müde wischt sich Feldwebel Dranner mit einer fahrigen Geste Schweiß und Blut aus der Stirn. Die Arme des Wächters schmerzen von der Anstrengung beim Umgang mit der ungewohnten Waffe, die Augen brennen vom Rauch und Schweiß und der Gestank nach Blut und Fäkalien peinigt die Nase. Immerhin ist er noch am Leben. Der Vorstoß hatte mehreren Milizionären das Leben gekostet und wäre vermutlich gescheitert, wenn die in diesem Bereich kämpfenden Piraten nicht verzweifelt bemüht gewesen wären, in das Innere der Stadt zu entkommen und dadurch nur das nötigste an Gegenwehr geleistet hätten. Nur eine kleine Gruppe um den offensichtlichen Anführer der Einheit hatte sich dem Vorstoß verbissen entgegengestellt und damit vielen ihrer Kameraden den Durchbruch ermöglicht. Obwohl Dranner angesichts dieses Opfermuts widerwillig eine gewisse Achtung empfindet, so bleiben die Entkommenen doch immer noch Halunken und Halsabschneider, Mörder und Vergewaltiger, und nur die Götter mochten wissen, was sie jetzt im Inneren der Stadt für ein Unwesen trieben. Jetzt galt es, die Lücken in der Verteidigung, die das unsinnige und unüberlegte Vorpreschen Frollos gerissen hatte, so schnell wie möglich zu schließen und alle weiteren Durchbruchsversuche zu vereiteln, um die ungeschützten Stadtbereiche und ihre Bewohner keiner weiteren Gefahr auszusetzen.
Mit einem schnellen, geschulten Blick verschafft sich der Veteran zahlreicher Schlachten einen Überblick über die gegenwärtige Situation. Es sollte eigentlich möglich sein, die kleine Gruppe durch einen schnellen, geordneten Rückzug zu den eigenen Linien aus ihrer exponierten Position herauszubringen. Noch hat sich die Lücke, die der Kampf gegen den Piratenanführer und seine Männer gerissen hat, nicht vollständig wieder geschlossen, und viele der Angreifer kümmern sich nicht um die wenigen Milizionäre, die den schmalen Streifen offen halten sondern stürmen blindlings gegen die eigentliche Verteidigungslinie der Wächter und Bürger an.
"Wir ziehen uns zu unseren Männern zurück! Bleibt zusammen!" schreit Dranner. Einige der umstehenden Milizionäre, die in kleinere Geplänkel verwickelt sind, nicken und versuchen, dichter zusammenzurücken, um im Schutze der Gruppe allmählich geordnet zurückzuweichen. Nur Frollo zeigt keine Reaktion. Mit blutunterlaufenen Augen sucht er das Schlachtfeld nach seinem so plötzlich verschwundenen, todwunden Gegner ab.
"Die feige Sau! Wo ist er hin! Ich hack' ihn in Stücke und verfüttere sein Herz an die Hunde!" tobt er unbeherrscht. "Ich werd' ihm zeigen, was es heißt, einfach so zu verschwinden!"
"Wir müssen zurück!" drängt der Feldwebel, der mit Sorge beobachtet, wie der Druck der Angreifer gegen die Milizionäre zunimmt und der Korridor, der ihren Rückzug ermöglicht, immer schmaler wird. Hart packt er den Hauptmann an der Schulter und reißt ihn herum.
"Lass mich, du Hund!" faucht dieser wie von Sinnen. "Ich werde das feige Schwein kriegen, und wenn dabei die ganze Stadt zugrunde geht!" Mit einer kräftigen Bewegung schüttelt er die Hand des Feldwebels ab und fast scheint es, als wolle er in seiner blinden Raserei die Waffe gegen ihn erheben.
Die Worte des Hauptmanns lassen in dem altgedienten Feldwebel den letzten Respekt vor seinem ehemaligen Vorgesetzten zerbrechen.
"Hast du der Stadt nicht schon genug angetan?" schreit er ihn an. "Du hast mit den Piraten paktiert, die eigenen Männer niedergeritten und willst jetzt auch noch alle für irgendeine persönliche Befriedigung opfern! Du wirst mit uns zurückgehen – und wenn diese Schlacht vorbei ist und wir noch leben, werde ich dich persönlich vor den Richter bringen!"
Der Feuerschein der Brände spiegelt sich in der zunehmenden Dunkelheit auf dem von Schweiß und Blut nassen Gesicht des Feldwebels und lässt dessen Augen in einem eigentümlichen Glanz erglühen. In den flackernden Lichtreflexen versprüht der Veteran den Nimbus eines von gerechtem Zorn erfüllten überirdischen Richters. Frollo ist kein besonders gottesfürchtiger Mann, doch der Anblick der in eine Aura aus rotem Licht getauchten, über und über mit Blut bespritzten Gestalt bringt selbst ihn schlagartig zur Besinnung. Obwohl er den Feldwebel um fast eine Haupteslänge überragt und dem wesentlich älteren Mann körperlich in fast jeder Hinsicht überlegen ist, weicht er zurück und hebt in einer Geste der Hilflosigkeit abwehrend die Hände.
"Ich bin Hauptmann der Miliz..." wendet er schwach ein, wird jedoch von Dranner harsch unterbrochen, bevor er fortfahren kann:
"Du hast hier keine Befehlsgewalt mehr, Herr Frollo! Und ich werde dich vor den Richter bringen!"