Ein schmerzhafter Schlag auf den Kopf vertreibt den Nebel vor Liajus Augen. In das Knistern und Krachen des Feuers mischt sich ein gänzlich anderes Prasseln. Etwas trifft die Balken des brennenden Hauses und die Steine des Straßenpflasters. Zwei weitere große Hagelkörner prallen an Liajus Körper ab.
Mit einem Mal wird der jungen Magierin die Gefahr klar, in der sie schwebt. Die Erinnerung durchzuckt sie wie ein Blitz: Sie ist in das Haus gelaufen, um die Flammen zu löschen, aber es war nicht mehr genug von dem konzentrierten Wasser übrig. In der Begeisterung über die Wirksamkeit von Nimues Destillat hat Liaju ihre Vorsicht vergessen. Ein einstürzender Balken hat ihr den Rückweg abgeschnitten. Der Rauch wurde dichter ... sie muss das Bewusstsein verloren haben.
Entsetzt bemerkt Liaju den Gestank nach Verbranntem, der ihren Verstand im selben Augenblick erreicht wie der heftige Schmerz in ihrem Rücken. Wild mit den Armen rudernd, versucht sie sich aufzurappeln. Es gelingt nicht. Ringsum tanzen die Flammen, vom Hagel nur geringfügig beeinträchtigt. Zischend zerschmelzen die Hagelkörner im knisternden Feuer. „Wir holen dich! Wir holen dich!“, scheinen sie Liaju hämisch zuzuraunen. Todesangst packt die Magierin und hält sie mit eisernem Griff fest. Das Feuer, der alte Feind ... die unbestimmte Furcht ihrer Kindheit steigt in ihr auf. Liaju kann nichts weiter tun, als in die Flammen zu starren, die sie gleich verschlingen werden.
Da ist plötzlich eine Stimme zu hören. „Liaju?“, ruft sie fragend.
Hoffnung durchbricht Liajus Angst wie schwellendes Wasser einen alten Damm. „Hier! Hier bin ich! Hilfe!“, schreit sie, so laut sie kann. Das Quietschen und Sirren ihrer Heimatsprache schallt durch das brennende Haus, aber das fällt Liaju nicht auf. All ihre Sinne sind nun einzig und allein darauf ausgerichtet, von hier wegzukommen, so schnell wie möglich weg aus dem Feuer.
Einige Momente vergehen. Schritte ertönen, jemand bahnt sich einen Weg durch die brennenden Trümmer. Wasser zischt, die Flammen weichen zurück, und dann taucht Meoros rußverschmiertes Gesicht im flackernden Feuerschein auf. Zum ersten Mal ist Liaju aus ganzem Herzen froh, dieses Gesicht zu sehen. Seit sie einander begegnet sind, sucht der Magierlehrling beharrlich ihre Nähe, wann immer er kann – obwohl sie ihm mehrmals deutlich zu verstehen gegeben hat, dass ihr nicht an seiner Gesellschaft liegt. Schließlich ist sie an die Akademie gekommen, um zu lernen, nicht um Kontakte zu knüpfen, noch dazu solche.
Seltsamerweise starrt Meoro sie erst einmal überrascht an. „Was schaust du so komisch? Hilf mir!“, fordert Liaju ihn ungeduldig auf, doch auf der angespannten Miene des jungen Mannes wird das Erstaunen nur durch abwartende Besorgnis abgelöst.
Jetzt erst begreift Liaju, dass die von ihrer Mutter gewobene Illusion zusammengebrochen ist, angefressen oder verzehrt von den überall orangerot züngelnden Mäulern des alten Feindes. Liaju wirkt auf Meoro nicht mehr menschlich – er kann ihre wahre Gestalt erkennen. Ihre Stimme gleicht nicht mehr der einer Frau, der Duft ihres Körpers wird nicht mehr überdeckt. Meoro sieht Liajus gegliederten Leib, ihre vier Arme, ihre Mandibeln und Facettenaugen. Er sieht die Kentru-Prinzessin.
Wieder wallt Angst in Liaju empor wie der Qualm des Feuers, der rings um sie aufsteigt und sie zu ersticken droht. Den meisten Menschen sind die Kentru unheimlich. Viele behandeln sie wie geistlose Monster, die man vernichten sollte, um vor ihnen sicher zu sein. Vor über zweihundert Jahren wurden drei der fünf Kentru-Dynastien von Menschen ausgelöscht, die sich ohne Grund bedroht fühlten ... ein Verbrechen, welches das Insektenvolk nicht vergessen hat. „Es ist falsch, von Mördern zu lernen.“, wandten zu Hause mehrere Stimmen ein, bevor Liaju nach Rechem aufbrach. Verzweifelt versucht die junge Kentru allem zu entfliehen, dem Menschen und dem alten Feind. Ihr hilfloses Zappeln bringt sie jedoch nicht vom Fleck.
Meoro hat derweil offenbar eine Entscheidung getroffen. Entschlossen kommt er auf Liaju zu. Ein einfacher Lehrling wie er gehört natürlich nicht zu den wenigen an der Akademie, die in Liajus Geheimnis eingeweiht sind. Jetzt hat er es durchschaut. Er weiß, dass er von einer Illusion genarrt worden ist, dass er sich von etwas angezogen gefühlt hat, das gar nicht existiert. Sicher ist er wütend, so getäuscht worden zu sein. „Hilf mir ... bitte!“, will Liaju schwach hervorstoßen, aber ihrem Mund entringt sich nur ein klägliches Zirpen.
Wortlos drückt Meoro den schweren Holzbalken beiseite, der auf Liajus Rücken gestürzt ist, und schiebt seine Arme unter ihren Körper. Dann hebt er sie an, trägt sie aus dem Haus auf die Straße und legt sie behutsam in einer wettergeschützten Nische ab. Sonst ist weit und breit niemand zu sehen. Sanft streicht er ihr über die Schultern.
Wild zucken die verrücktesten Gedanken durch Liajus Kopf. Der Schmerz in ihrem Rücken ist nicht mehr ganz so heftig, aber sie weiß nicht, wie sie der ungebrochenen Zuneigung ihres Retters begegnen soll. Und die Mäuler des alten Feindes zischen und brausen noch immer auf der ganzen Länge der Straße.
„Wir dürfen nicht ausruhen!“, keucht sie und versucht erfolglos, wieder aufzustehen, „Die Stadt brennt. Wir können nicht tatenlos zusehen, wie sie ein Raub der Flammen wird!“
Meoro berührt zärtlich die Stirn der geschwächten Kentru. „Wir haben zumindest das Gebiet rings um die Akademie gerettet. Jetzt haben wir beide kein konzentriertes Wasser mehr. Wir haben getan, was wir konnten. Und du bist schwer verletzt. Du kannst hier niemandem mehr helfen, du brauchst selbst Hilfe.“
Das Gefühl, dass Meoro diese Situation gar nicht so unangenehm ist, beschleicht Liaju. Aber bevor sie protestieren kann, beginnt er einen einfachen Heilzauber zu wirken – eines der wenigen Dinge, die der als Tagträumer verschriene Zauberschüler in seiner Zeit an der Akademie gelernt hat. Wohlige Kühle breitet sich in Liajus Rücken aus; der Schmerz lässt weiter nach. Allmählich beruhigt sich auch Liajus Verstand ein wenig und gibt Meoro Recht: In dieser Verfassung wäre sie, die entkräftete Kentru, sicherlich niemandem eine Hilfe.
Am Rande ihrer Wahrnehmung, mehr wie ein fernes Wetterleuchten, bemerkt Liaju, dass sich die Magie, in die ihre Mutter sie schützend gekleidet hat, langsam regeneriert. Für jemanden, der die Straße entlangkommen sollte, dürfte sie wieder wie ein Mensch wirken. Auf Meoro dagegen hat der Zauber wohl kaum einen täuschenden Einfluss.
„Danke.“, sagt sie leise, aber es klingt irgendwie abweisend. Er lächelt freundlich und fährt sacht, halb verwundert und halb fürsorglich, mit den Fingerspitzen über ihren grüngrauen Rücken.
Liaju hat die menschliche Angewohnheit, sich ständig gegenseitig zu berühren, seit ihrer Ankunft in der Akademie gehasst und nach Möglichkeit vermieden. Berührungen erhöhten nur die Gefahr, dass ihre Illusion durchschaut wurde. Zudem spürt ihr gepanzerter Körper Berührungen nicht einmal halb so gut, wie es die weiche menschliche Hülle offenbar vermag. Ständig war sie in Sorge, versehentlich zu fest zu drücken oder ein leichtes Antippen nicht zu bemerken. Vielleicht liegt es an ihrer Rückenwunde, dass sie Meoros Streicheln jetzt so deutlich spürt? Es fühlt sich seltsam an ... Liaju erzittert und gibt unwillkürlich einen Laut von sich, in dem sich die widerstreitendsten Gefühle mischen: Angst und Erleichterung, Dankbarkeit und Widerwille, Schmerz und ... und Genuss?
Meoro ergreift sie bei den Schultern und sieht ihr in die Augen. „Ich bin sehr froh, dass ich dich noch rechtzeitig gefunden habe.“, sagt er ruhig und will sie näher an sich ziehen, doch sie wehrt ihn ab. Ein Schauder läuft ihr über den Rücken – etwas, das ihr noch nie passiert ist. Hat sie schon zu lange unter den Menschen gelebt? Sie will den jungen Mann, der ihr das Leben gerettet hat, nicht vor den Kopf stoßen, aber vielleicht muss sie es tun, wenn er nicht erkennt, was für jeden sonst offensichtlich ist. „Verstehst du denn nicht ...“, sagt sie mit brüchiger Stimme, die für sie selbst einen halb menschlichen Klang hat, „dass diese ...“ – sie stockt und sucht nach einem anderen Wort, aber dann benutzt sie es doch – „dass diese Liebe völlig aussichtslos ist?“
Er schüttelt traurig den Kopf. „Wahre Liebe kann jedes Hindernis überwinden. Ob Elf oder Ork, ob Echsenmensch oder irgendein anderes Volk: Ich liebe dein Wesen, ganz gleich, welche äußere Gestalt du besitzt. Für dich würde ich den höchsten Berg erklimmen, das tiefste Tal durchwandern. Ich würde mich den Piraten entgegenstellen, damit du fliehen kannst, und ich würde jederzeit noch einmal in ein brennendes Haus hineinstürmen, um dich dort herauszuholen.“
Ein eigenartiges, unbekanntes Gefühl drängt sich Liaju auf. Dieser Tagträumer und Spinner meint wirklich ernst, was er sagt. Wäre es tatsächlich möglich, jedwedes Hindernis aus dem Weg zu räumen, wenn man nur von dem überzeugt ist, was man vor Augen hat? Es ist eine seltsam reizvolle Vorstellung, jemanden dauerhaft an seiner Seite zu haben, der immer zu einem hält. Bei den Kentru werden Männer nicht alt. Wenn sie mit den Königinnen für Nachwuchs gesorgt haben, sterben sie. Liajus eigene Mutter hatte schon Dutzende von Gemahlen. Um die meisten hatte niemand in der Familie auch nur kurze Zeit getrauert.
Verwirrt sieht die Prinzessin ihren Retter an. Traditionen sind den Kentru sehr wichtig. Mit einem Menschen nach Hause zurückzukehren, wäre ein Tabubruch ... aber Liaju hatte immer schon ihren Spaß daran, daheim gegen die vielen Bräuche und Regeln zu verstoßen.
Es fällt ihr schwer, Ordnung in ihre Gedanken zu bringen, in die vielen Möglichkeiten, die sie sich plötzlich auszumalen vermag. Die Zukunft, die ihr am Hof ihrer älteren Schwester, der Kronprinzessin, deutlich vorgezeichnet erschien, verschwimmt mehr und mehr. Vielleicht wäre es nicht nur denkbar, sondern sogar aufregend, aus dieser Rolle auszubrechen? Was sie möchte und was sie empfindet, das ist ihr selbst nicht ganz klar, aber in einem ist sie sich recht sicher: Wenn Meoro jetzt den Tod fände, wäre sie traurig.
Eine gute Erwiderung auf Meoros kurzen Vortrag über die wahre Liebe fällt ihr nicht ein. „Danke.“, sagt sie deshalb erneut, und diesmal klingt es deutlich wärmer, „Danke, dass du mich gerettet hast. Deine ... Liebe scheint dich zu einem richtigen Helden gemacht zu haben.“
Meoro schmunzelt. „Es war nicht weniger heldenhaft von dir, in so viele brennende Häuser zu laufen und die Flammen zu löschen.“, entgegnet er, und aufrichtige Bewunderung schwingt in seiner Stimme mit. Dass jemand ihr Verhalten als heldenhaft ansieht, überrascht Liaju. Sie hat doch nur getan, was zum Wohl der Allgemeinheit getan werden musste. Oder denkt sie auch darin zu sehr wie eine Kentru?
Vom Hafen her treibt der Wind Kampflärm und Schreie durch die Straße. „Wie es scheint,“, sagt Meoro mit einem grimmigen Lächeln, „bringt der heutige Tag viele Helden und Heldinnen hervor.“