Allmählich schälen sich aus der Dunkelheit Konturen und die Finsternis weicht einem angenehm warmen Licht. Noch sind keine Einzelheiten zu erkennen; alles wirkt verschwommen und wie mit einem Nebelschleier überdeckt. Dranner erinnert sich an das Gewimmel einer Schlacht, an Schiffe, die brennend auf dem Wasser treiben, an vom Himmel herabregnendes Eis und eine Stimme, die beruhigend auf ihn einredet, doch es gelingt ihm nicht, einen Zusammenhang zwischen diesen Erinnerungsfetzen und sich selbst herzustellen. Dann setzt unvermittelt ein bohrender Schmerz in der Augenhöhle ein, pochend und zugleich brennend, als bestünde der Augapfel aus einer Kugel glühenden Eisens.
Dranner stöhnt auf und will mit der Hand nach der schmerzenden Stelle greifen, doch sein Arm wird durch eine weiche Hand gepackt und sanft, aber unnachgiebig nach unten gedrückt.
"Das würde ich an deiner Stelle nicht tun." ertönt eine rauchige, eindeutig weibliche Stimme neben ihm. "Die Wunde ist gereinigt und fürs erste versorgt, aber wenn du dran rumfummelst, bricht sie wieder auf. Außerdem könntest du Dreck reinbringen, wenn du den Verband verschiebst, und das würde dir ganz sicher nicht gefallen, ganz und gar nicht gefallen würde dir das."
Dranner versucht, den Schleier vor seinen Augen wegzublinzeln. Eine Welle von Schmerz jagt von seiner linken Gesichtshälfte durch den Körper. Sein Blick klärt sich zwar, aber der Umgebung mangelt es an Tiefe und außerdem ist sein Blickfeld erheblich eingeschränkt. Irgendetwas scheint sein linkes Auge zu bedecken und er muss den Kopf drehen, um die Frau an seiner Seite betrachten zu können. Die Bewegung fällt ihm unerwartet schwer und löst neben dem bohrenden Schmerz auch einen Anflug von Schwindel in ihm aus. Neben ihm hockt eine auf eine anrüchige Art attraktive Frau, deren Kleidung mehr von ihrem üppigen Busen sehen lässt, als der Anstand erlaubt.
"Du bist..." hebt Dranner an, doch anstelle der Worte kommt nur ein Krächzen aus seiner Kehle. Die Bewegung spannt seine Gesichtshaut und Dranner hat das Gefühl, als würde sie zerreißen. Sekundenlang wartet er mit zusammengebissenen Zähnen, bis der Schmerz wieder abklingt, dann wagt er einen neuen, vorsichtigeren Versuch.
"Du bist eine... eine... " stammelt er kaum verständlich, bemüht, den Mund nicht weiter zu öffnen als unbedingt erforderlich.
"Ja?" Die Frau beugt sich etwas vor, um die Worte des Schwerverwundeten besser verstehen zu können. Sie scheint nicht zu bemerken, dass sie dabei einen tiefen Blick in ihr Dekolleté freigibt.
Dranner gibt auf. Er wollte eigentlich "jemand, bei dem man käuflich Liebe erwerben kann" sagen, um nicht eines der üblichen, eher geringschätzigen Wörter gebrauchen zu müssen, das ihm in der gegenwärtigen Situation irgendwie unangemessen erscheint. Doch die Worte kommen ihm momentan viel zu kompliziert vor, um sie in seinem Zustand formulieren zu können.
"Du bist eine Dirne." haucht er stattdessen kaum hörbar.
"Tatsächlich? Was du nicht sagst!" lacht die Frau, ohne sich an der abwertenden Bezeichnung zu stören. "Ja, bei mir kann man eine Menge Spaß für wenig Geld haben – und ich garantiere dir, dass es jedes Kupferstück wert ist!"
Angesichts des Gesichtsausdruckes des Feldwebels lacht sie laut auf.
"Das interessiert dich wohl nicht, was? Oh nein – Feldwebel Dranner hat es nicht nötig, sich mit einer Hafenhure abzugeben und womöglich noch Geld bei ihr zu lassen, nicht wahr? Huren machen doch nur Ärger, und am liebsten würde ein Mann wie er das ganze anrüchige Pack aus seiner sauberen Stadt werfen."
Dranner will den Kopf schütteln und etwas erwidern, doch die Frau legt ihm ihren weichen, zarten Finger auf die Lippen und vereitelt so jeden Versuch einer Rechtfertigung.
"Tja, mein lieber Feldwebel, dich hat's ganz schön erwischt. Die haben dir da draußen eine gehörige Tracht Prügel verpasst und dir das halbe Gesicht aufgeschnitten. Dein eines Auge ist futsch, und für die nächste Zeit wirst du dich wohl mit dünner Suppe begnügen müssen. Aber mach dir keine Gedanken wegen der scheußlichen Narbe, die du garantiert behalten wirst – bei einem Mann wie dir wirkt ein halbiertes Gesicht nicht abschreckend, sondern interessant – mit so einer Narbe wirst du noch der Schwarm aller Frauen werden!" Die Frau lacht leise – ein angenehmes, warmes Lachen, das nicht den Eindruck erweckt, als würde sie den Verwundeten verspotten wollen.
Erneut tauchen einzelne Erinnerungsfetzen vor Dranners innerem Auge auf. Die Schreie von Verwundeten, das Klirren von Waffen. Reiter, die in die Reihen der Kämpfenden hineinpreschen. Offenbar war er in dieser Schlacht verwundet worden und hatte ein Auge verloren – mal abgesehen von seinem lückenhaften Gedächtnis, was sicherlich auf den Schlag auf seinen Kopf zurückzuführen ist; aber gegen wen hatte er gekämpft, und warum?
"Was... ist die gute Nachricht?" stöhnt Dranner säuerlich und bemüht sich fieberhaft, Ordnung in seine vagen Erinnerungen zu bringen und die zahlreichen noch fehlenden Puzzlesteinchen aufzudecken.
"Die gute Nachricht?" Das Lachen der Frau klingt ehrlich und aufrichtig. "Du scheinst dich wirklich zu erholen, nicht wahr? Nun denn, die gute Nachricht ist: Wenn mal gar kein Weib dein Narbengesicht anschauen will, dann kommst du einfach zu uns! Vielleicht bekommst du sogar einen Rabatt..." Erneut lacht sie, während sie Dranner vorsichtig und behutsam und mit offensichtlicher Fachkenntnis mit einem feuchten Tuch über die Stirn wischt.
Resignierend verdreht Dranner das gesunde Auge. Wollte sie sich über ihn lustig machen? Aber ihre Berührung ist angenehm und erfrischend, und der Schmerz in seiner gemarterten Gesichtshälfte ebbt unter den weichen, erfahrenen Händen rasch auf ein zwar permanentes, aber erträgliches Maß ab. Offenbar ist sie nicht nur in der Wundbehandlung erfahren sondern auch ernsthaft an seiner Genesung interessiert.
"War gar nicht so einfach, dich von da draußen hier rein zu holen." fährt die Frau in einem so belanglosen Ton fort, dass sich Dranner für einen kurzen Moment in das Plauderstündchen eines Kaffekränzchens versetzt fühlt.
"All die Kämpfenden und die Wächter, die deinen Namen brüllten und sich auf die Piraten stürzten, als wollten sie sie mit bloßen Händen zerfetzen, und mitten dazwischen du, am Boden liegend. Und du bist ganz schön schwer, das kann ich dir sagen. Scheinst kein Kostverächter zu sein und ein paar Reserven für schlechte Zeiten angespart zu haben. Die Jungs haben mächtig geächzt, als sie dich hier rein bugsiert haben. – Tja, ich dachte halt, es wäre eine gute Idee, einen Wächter zum Freund zu haben. So was könnte sich sehr belebend auf das... Geschäft auswirken." Ebenso kokett wie verschwörerisch blinzelt sie Dranner zu.
Die Erwähnung der Piraten lässt die ungeordneten und unvollständigen Puzzleteilchen, die Dranner innerlich verzweifelt versucht zusammenzufügen, schlagartig zu einem zusammenhängenden Bild werden.
"Meine Männer!" stöhnt der Feldwebel auf und fährt ruckartig in die Höhe. Sofort bereut er die Bewegung, als seine linke Kopfhälfte in Flammen steht und eine Vielzahl winziger Lichter vor seinem gesunden Auge zu explodieren scheinen. Eine Welle aus Übelkeit steigt in ihm empor und für Augenblicke dreht sich die Umgebung vor ihm in einem wilden Reigen. Ächzend sinkt er zurück und schnappt sekundenlang nach Luft, um die Pein, die von seiner verwundeten Gesichtshälfte ausgeht, zu verdrängen.
"Ich muss... zu meinen Männern! Ihnen beistehen!"
"Sachte, großer Krieger, sachte!" meint die Frau amüsiert aber auch etwas besorgt.
"Du hast eine Menge Blut verloren. Ich wusste gar nicht, dass soviel Blut in einem Menschen steckt, und schließlich kennen wir Frauen uns mit Blut aus! Wie du so bleich und still hier gelegen hast – ich dachte wirklich, dass alles Leben aus dir rausgelaufen wäre."
Mit einer fast zärtlich anmutenden Geste streicht sie dem Feldwebel erneut über die Stirn, bevor sie fortfährt:
"Und außerdem kommen deine Männer ganz gut allein zurecht. Sie jagen die Piraten gerade zurück ins Meer. Ein großer Kerl in Uniform führt sie an und prügelt auf die Halunken ein, als würde er sie alle alleine erschlagen wollen. Wenn du mich fragst, ist das dieser miese Frollo, obwohl ich mich bei dem schlechten Licht natürlich geirrt haben könnte. Na, wenigstens eine gute Tat, die der Mistkerl mal zustande bringt! Wenn er weiter so macht, wird er noch ein richtiger verdammter Held werden."
Benommen schließt der Feldwebel sein gesundes Auge. Er hat keine Ahnung, wem er den fast tödlichen Hieb zu verdanken hat, aber ein verlorenes Auge scheint ihm ein geringer Preis, wenn dafür die Stadt gerettet werden konnte. Und Frollo hat den Angriff angeführt, der offenbar die Schlacht endgültig zugunsten der Verteidiger entschied, und drängt wahrscheinlich gerade eben die letzten Angreifer in das schmutzige und kalte Wasser des Hafenbeckens. Wollte der frischgebackene Hauptmann damit seine Schuld an Rechem wiedergutmachen? Hoffte er darauf, dass Dranner unter diesen Umständen sein Versprechen vergessen und auf eine Entscheidung des Richters verzichten würde? Doch der Feldwebel ist nicht bereit, dem ehemaligen Leutnant zu vergeben. Er fühlt sich nicht zum Richter berufen, doch er würde ihn der Gerechtigkeit übergeben, wenn er die Möglichkeit dazu bekommen sollte. Mochten die Richter seine letzten Taten zu seinen Gunsten auslegen - er, Dranner, würde das nicht tun.
Langsam und diesmal bedeutend vorsichtiger stemmt sich der Feldwebel in die Höhe. Sofort setzt wieder der pochende Schmerz ein, doch diesmal ist er darauf vorbereitet und widersteht ihm mit zusammengebissenen Zähnen.
"Was hast du vor? Du solltest besser hier liegen bleiben." fährt ihn die Frau mit deutlicher Missbilligung in der Stimme an. Sie macht Anstalten, ihn zurückzudrücken, doch ein Blick in sein entschlossenes Gesicht lässt sie zögern. "Die Wunde an deinem Kopf ist…"
"Ich danke dir für deine Hilfe." unterbricht sie der Feldwebel und versucht, den neuerlich aufflammenden Schmerz zu ignorieren.
"Wirklich!" fügt er hastig hinzu, als er das empörte Stirnrunzeln der Frau bemerkt.
"Sieh! Du hast mir vermutlich das Leben gerettet, und ich will nicht undankbar erscheinen…"
Das Sprechen fällt dem Feldwebel schwer, und jedes Wort jagt eine Welle aus Pein durch seine linke Gesichtshälfte. Erschöpft hält er kurz inne, doch als seine Helferin zu einer Erwiderung ansetzt, fährt er ungeachtet der Schmerzen fort: "...aber dort draußen sind viele Männer, die deine Fähigkeiten in der Heilkunst... nötiger haben als ich... oder wenigstens... eine warme Hand halten sollten... für ihre letzten Augenblicke... in dieser Welt..." Dranners Atem geht keuchend, und er spuckt die Worte eher aus, als er sie spricht.
"Mir geht es… gut…" ächzt er, obwohl er sich elend fühlt und davon ausgeht, dass seine Helferin die Lüge sofort durchschauen wird. Die Beine des Feldwebels fühlen sich weich an und sind kaum in der Lage, das Gewicht des Mannes zu tragen. Wellen von Schmerz jagen über das geschundene Gesicht, vor seinem gesunden Auge tanzen Punkte in allen Farben durcheinander. Übergangslos scheint sich die Welt um Dranner plötzlich zu ändern, und verständnislos starrt er in das Gesicht der Frau, die irgendetwas sagt, ohne dass ihre Worte sein Ohr erreichen. Groß und rund wie einer der lustig angemalten Bälle der Straßengaukler hängt es körperlos mitten in der Luft vor ihm, nur um gleich darauf zusammenzufallen und sich unnatürlich in die Länge zu ziehen. Als sich der in einen rötlichen Dunst getauchte Raum zu drehen beginnt, knicken die Beine unter Dranner ein und er fällt kopfüber in eine bodenlose, alptraumhafte Finsternis.
Fluchend versucht die Frau den erschlaffenden, in sich zusammensackenden Körper des alten Wächters zu stützen. Mit Mühe gelingt es ihr gerade noch, den Sturz abzumildern.
"Verdammter Hitzkopf!" flucht sie leise und mustert besorgt die notdürftig versorgte Wunde. Frisches Blut sickert unter dem dicken Verband heraus. Vielleicht war die Verletzung doch schwerer, als sie ursprünglich angenommen hatte. Kopfverletzungen waren tückisch und konnten gefährlicher sein, als sie aussahen. Womöglich war ein Knochensplitter in den Schädel eingedrungen. Das ging über ihre bescheidenen Fähigkeiten hinaus, hier war ein Experte, ein echter Heiler gefragt. Aber… konnte sie es wagen? Dranner ist nicht einfach nur irgendein Wächter, und obwohl er selbst unter jenen, die die Nacht dem Tage vorzogen, durchaus Achtung genießt, so bleibt er doch ein Vertreter für Recht und Ordnung, ein erbitterter Gegner der vielen inoffiziellen Möglichkeiten, die eine Stadt wie Rechem bietet. Dieser Weg würde weit über ihre kleinliche Absicht, sich einen kleinen Bonus bei der Wache zu ergattern, hinausgehen. Unschlüssig blickt die Frau in das aschfahle Gesicht des bewusstlosen Feldwebels.
"Trägst gerade deinen letzten verzweifelten Kampf aus, wie?" flüstert sie leise. "Aber hier kämpfst du gegen einen Gegner, gegen den du nicht gewinnen kannst, Schätzchen! Zumindest nicht ohne Unterstützung."
Mit einer Geste des Bedauerns streicht sie dem Feldwebel behutsam über die Stirn, während sie eine Entscheidung trifft...