Trotz des mittlerweile eindeutigen Sieges über die Piraten kann der junge Korporal seine Empörung nur mit Mühe unterdrücken. Frollo hatte den Tod zigfach verdient, und wenn ihm nicht einer der anderen Wächter zuvorgekommen wäre: er selbst hätte den Hauptmann liebend gern auf seine letzte Reise geschickt! Aber was hier geschieht, ist ganz und gar verkehrt! Anstelle gerechten Zorns oder Genugtuung über das schmähliche Ende des Hauptmanns bringen die meisten der Umstehenden nur Bestürzung und Trauer über seinen Tod zum Ausdruck. Neben dem Gefallenen knien sogar einige Priester und Ritter, um ihm mit ihren Gebeten einen sicheren Weg in die jenseitige Welt zu bereiten.

"Was für ein Held!" flüstert ein blutjunger Wächter ehrfurchtsvoll mit glänzenden Augen. "Er hat uns allen den Sieg gebracht!"
Entgeistert starrt der Korporal den Jüngling an, der gerade eben erst inbrünstig "Rache für Dranner!" gebrüllt und einen glücklosen Piraten mit seiner Pike aufgespießt und wie eine Trophäe hochgehoben hatte. Und jetzt plötzlich diese Heldenverehrung für Frollo? Für den Mann, der Dranner heimtückisch den Todesstoss versetzt hat?

Ein etwas älterer Wächter neben dem Korporal, der wie dieser die Bluttat des Hauptmanns beobachtet hatte, spuckt mit finsterer Mine aus.
"Da soll doch die Hölle gefrieren!" brummt er, "Was für ein beschissenes Spiel ist das eigentlich? Der Mistkerl hat es nicht mal verdient, dass sein Herz an einen Hund verfüttert wird – und jetzt bekommt er soviel verdammte Ehrerbietung, dass er von all der Lobhudelei glattweg wieder auferstehen könnte! Speiübel wird einem davon, da möchte man doch den ganzen Seich auskotzen!"
Der Wächter ballt in ohnmächtiger Wut die Fäuste und knirscht hörbar mit den Zähnen. Anklagend fährt er fort, seinem Ärger Luft zu machen: "Korporal – wenn der Mann, der unseren Feldwebel auf dem Gewissen hat, wie der allergrößte Held gefeiert wird – da stinkt was ganz gewaltig, da ist was oberfaul! Ich hätte nicht übel Lust, alles hinzuschmeißen, mich auf die Seite der Piraten zu schlagen und die ganze verdammte Stadt niederzubrennen!"

"Reiß dich zusammen und hör auf, solchen Unfug zu reden!" fährt ihn der Korporal schroff an, der sich von den schonungslosen Worten des älteren Wächters unangenehm berührt fühlt – vielleicht, weil er tief in seinem Inneren ganz ähnlich empfindet.

"Verzeihung, Korporal, aber das ist nur meine Wut. Ich kann's einfach nicht fassen, wie dieser Hundsfott jetzt verehrt wird. Er hat Dranner erschlagen, und dann ist er vor uns davongelaufen! Und jetzt glauben die Meisten, dass er den Angriff geführt hätte!"
Erneut spuckt der Wächter angewidert aus.
"Dieser verdammte Hurensohn, verflucht soll er sein! Wusste genau, was ihm blühen würde, wenn wir ihn in die Finger kriegen, und wollte nur schnell weg, um sein dreckiges Leben zu retten, der Mistkerl! Gut – hat ein paar Piraten umgehauen, aber nicht für Rechem, sondern weil er einen Mordsschiss vor uns hatte! Als wäre er heldenhaft mitten in die Piraten gestürmt, um den anderen ein Vorbild zu geben, und hätte sein Leben geopfert, um die Stadt zu retten! Sollen die Aasgeier sein fauliges Fleisch von den Knochen hacken!"

"Immerhin ist er tot." kommentiert der Korporal, ohne den Worten des aufgebrachten Mannes zu widersprechen.

"Jaaa…" macht der ältere Wächter gedehnt. Für einen Moment huscht der Anflug einer tiefen Befriedigung über sein Gesicht. "Obwohl für diesen Mistkerl der Tod eigentlich viel zu schade ist. Ich schwöre – ich hätte ihn mit bloßen Händen zu Geschnetzeltem verarbeitet, wenn ich ihn erwischt hätte!"

"Jetzt ist es aber genug mit diesem ketzerischen Gerede!" zischt eine fremde Stimme. Ein Priester mit zornig funkelnden Augen tritt zu den beiden Wächtern. Das Kampfgewand des heiligen Mannes ist blutbesudelt und in der Hand hält er einen schlanken Streitkolben, dessen scharfkantige Zacken von frischem, dunklem Blut befleckt sind. "Hauptmann Frollo ist ein leuchtendes Beispiel von Heldenmut und Opferbereitschaft! Mit seinem Vorbild hat er uns allen den Mut gegeben, das Piratenpack schließlich vernichtend zu schlagen!"

"Verzeihung, Herr!" entgegnet der Korporal, nachdem er sich von seiner anfänglichen Überraschung erholt und Haltung angenommen hat. "Aber das entspricht nicht der Wahrheit! Hauptmann Frollo hat einen Angriff geführt, der unsere Verteidigung an den Rand einer Niederlage brachte! Nur Feldwebel Dranner ist es zu verdanken, dass die Stadt nicht gefallen ist! Er konnte unsere Linien wieder stabilisieren und versuchte sogar, den Hauptmann durch einen tapferen Vorstoß zu entsetzen! Doch anstatt ihm zu danken, wurde er von Hauptmann Frollo erschlagen!"

"Dranner ist tot?" entfährt es dem Priester ehrlich überrascht. "Das wusste ich nicht! Ich hörte, wie die vorstürmenden Männer seinen Namen riefen, aber… Von Frollo erschlagen, sagt ihr? Nun, im Eifer des Gefechtes mag es geschehen, dass…"

"Nein, Herr! Er hat Feldwebel Dranner ermordet, Herr, als dieser ihm zu Hilfe eilte! Wahrscheinlich weil der Feldwebel von Frollos Machenschaften mit den Piraten Wind bekommen hatte und er ihn daher beseitigen wollte. Und dann ist er vor uns geflohen!"

Der Zorn ist aus dem Gesicht des Priesters gewichen. Aufmerksam geht sein Blick von dem jungen Korporal zu dem neben ihm strammstehenden älteren Wächter und wieder zurück. Er selbst war von dem unerwarteten Vorsturm der Wächter mitgerissen worden und hatte Frollos Fall aus nächster Nähe beobachtet. Daher weiß er, dass der Hauptmann nicht im Nahkampf umgekommen ist.

"Frollos Machenschaften mit den Piraten? Ein Armbrustbolzen… Der Bolzen eines Wächters… jetzt wird mir einiges klar." sagt er schließlich nachdenklich. "Wie es mir scheint, ist Frollo nicht durch die Hand eines Piraten gefallen."
Durchdringend blickt er die beiden Wächter an, auf deren Gesichtern er für einen kurzen Augenblick Genugtuung zu erkennen glaubt. Vorsichtig sieht er sich um, bevor er leise mit einem fast drängenden Tonfall fortfährt:
"Das ist eine… interessante Darstellung. Ich kenne sowohl Dranner als auch Frollo, und Eure Schilderung hört sich für meine Ohren… nicht unglaubwürdig an. Obwohl es natürlich eine schwere Anschuldigung ist. Doch ich rate euch, das Geschehene ruhen zu lassen, zumindest vorerst! Niemand würde euch hier und jetzt Gehör schenken, und das Beste, was euch passieren könnte, wäre, dass man euch einfach ignoriert. Im schlimmsten Fall jedoch würde man euch massakrieren."

Der Blick des Priesters geht zu dem Ort, wo der Hauptmann niedergestürzt war, und wo gerade einige Wächter und Ritter vorsichtig und behutsam den klobigen Körper des Gefallenen auf eine eilends herbeigeschaffte improvisierte Trage heben. Unwillkürlich folgen die Blicke der beiden Wächter dem des Priesters. Ihre Körper versteifen sich und scheinen mit jedem einzelnen Muskel Ablehnung auszudrücken.

"Die meisten hier", fährt der Priester nach einem kurzen Moment des Schweigens fort, "haben nur gesehen, wie Frollo vor eurer Truppe vorstürmte und eine Schneise in die Piraten schlug. Viele glauben, dass er absichtlich vorgestoßen ist und sein Leben opferte, um unsere Kämpfer zu ermutigen, andere, dass er euch anführte. Doch alle sind der Meinung, dass seine Tat die entscheidende Wende in dieser Schlacht brachte. Bei Undar - ich selbst bin noch nicht sicher, was ich eigentlich glauben soll! Aber wenn Frollo tatsächlich einen solch ungeheuerlichen Frevel auf sich geladen hat, wird Undar ein gerechtes Urteil über ihn fällen – und was bedeutet es schon, wenn der tote Körper hier als Held gefeiert wird, wenn ihn im Jenseits das Fegefeuer erwartet?"

"Viel, Herr!" grollt der ältere Wächter, "Er ist ein Verbrecher, kein verdammter Held!"

Der Priester seufzt. "Blickt euch auf dem Schlachtfeld um!" fordert er die beiden Wächter auf, was diese tatsächlich dazu veranlasst, über das noch immer hektische Gewimmel im Hafenbereich zu schauen, als würden sie es zum ersten Mal sehen. Der Widerstand der Piraten scheint inzwischen weitestgehend erloschen, die Kampfgeräusche haben aufgehört. Die siegreichen Verteidiger klopfen einander auf die Schultern, liegen sich in den Armen oder knien im Gebet vertieft am Boden.

"Noch wird über die gewonnene Schlacht gejubelt! Doch schon bald wird hier nur noch Schmerz und Tod herrschen, wenn die Leute merken, dass auch ihre Angehörigen erschlagen unter den Toten liegen, und wenn das Jammern und Stöhnen der Verstümmelten lauter wird als der Jubel. Rechem hat für diesen Sieg einen hohen Preis gezahlt, und noch weiß keiner, wie teuer er uns wirklich zu stehen kommen wird. Lasst den Menschen ihren Helden! Sie brauchen ihn jetzt! Er gibt ihnen die Kraft und den Mut, mit ihren Verlusten umzugehen. Es wird die Gelegenheit geben, die Missetaten Frollos aufzudecken und die Wahrheit auszusprechen – doch nicht hier, und nicht heute! Begrabt den unmenschlichen Hass und lasst den Dingen ihren Lauf! Zumal offensichtlich dem… Urteil bereits vorgegriffen und es vollstreckt wurde, womit der Gerechtigkeit Genüge getan sein sollte, wie mir scheint."

Erneut blickt der Priester die beiden Wächter forschend an, vermag in den beinahe maskenhaft erstarrten Gesichtern jedoch keine Regung zu erkennen. Schließlich fährt er mit fast beschwörendem Tonfall fort:
"Raubt den Menschen nicht ihre Illusionen, die sie jetzt dringender nötig haben als alles andere! Sie sind noch nicht bereit für eure Version der Wahrheit, und wenn sie mitbekommen, wer für Frollos Tod verantwortlich ist, wird es euch schlecht ergehen! Und wer weiß - vielleicht hat Frollo mit seinem Frevel tatsächlich diese Schlacht entschieden - auf die ein oder andere Weise? Undar allein kennt die Wahrheit, und wenn er es für sinnvoll erachtet, der Stadt einen Helden zu geben, dann solltet ihr daran nicht zweifeln!"

"Die Stadt ist voller Helden!" kommentiert der Korporal bitter. "Die meisten von ihnen liegen in ihrem Blut auf den Straßen, und viele von jenen, die noch atmen, werden den Sonnenaufgang nicht mehr erleben."

"Möge Undars Segen mit ihnen sein." erwidert der Priester und nickt. Ein kurzes Lächeln huscht über sein Gesicht. "Deine Worte ehren dich, Wächter – auch wenn ihr Zynismus mir gegenüber natürlich unangemessen ist. Doch die Helden, von denen du sprichst, sind namenlos, und die meisten starben allein und niemand nahm unmittelbar Notiz von ihren Taten. Frollo hingegen…"

"Dranners Namen war bekannt." unterbricht der ältere Wächter trotzig, was ihm kurz einen strafenden Blick des Priesters einbringt. "Und wir sahen ihn sterben!"

Der Priester schweigt einen Moment und blickt die Wächter nachdenklich an. "Dranners Tod ist ein bitterer Verlust für Rechem. Ich bin sicher, dass die Bürger wissen, wen sie in ihm verloren haben. Seine Tapferkeit und sein selbstloser Einsatz zum Wohle der Stadt standen immer außer Frage. Undar wird den Feldwebel mit Freuden in seinen Hallen willkommen heißen."

"Hoffentlich!" murmelt der Korporal. Kaum merklich zuckt der Priester zusammen und ist für einen Lidschlag versucht, ihn für seinen ketzerischen Frevel zurechtzuweisen. Doch ein Blick in das ausdruckslose Gesicht des jungen Mannes lässt den heiligen Mann die scharfe Rüge unausgesprochen herunterschlucken und nachsichtig lächeln.
"Wo ist der Leichnam des Feldwebels?" fragt er stattdessen.

Betreten blicken die beiden Wächter zu Boden. Das war etwas, was sie nicht verstanden – nach Frollos Fall hatten sie den Feldwebel unter den Toten gesucht, dort, wo sie ihn zu Boden gehen sahen. Doch der Körper des Feldwebels war verschwunden, und alle Bemühungen, ihn wiederzufinden, waren bisher vergeblich gewesen.

"Er ist... verschwunden. Wir konnten seinen Körper bisher nicht finden. Er scheint nicht unter den anderen Toten zu sein." erwidert der Korporal und vermeidet es, den Priester anzusehen.
"Eine Gruppe unserer Männer sucht weiter nach ihm. Einer der Milizionäre glaubt, Gestalten in grauen Kutten gesehen zu haben, die einen Mann wegschleppten, aber er war sich nicht sicher, ob es nicht nur irgendwelche Schatten gewesen waren – das Licht ist ziemlich schlecht, wisst Ihr…"

Der Priester nickt verstehend. "Ihr solltet den Körper des Feldwebels schnellstmöglich finden. Und ich rate euch dringend, eure Beobachtung seines Todes vorerst für euch zu behalten. Findet euch damit ab, dass Frollo bereits… gerichtet wurde. Gibt es weitere Zeugen für seine Tat?"

Der Korporal zögert kurz und versucht sich die Szenen des Mordes noch einmal ins Gedächtnis zu rufen.
"Es waren einige Milizionäre direkt bei ihm, als es geschah. Aber die meisten von ihnen sind während des Vorsturms gefallen. Ansonsten noch der ein oder andere… ich weiß nicht genau."

Der Priester legt den beiden Männern beschwörend die Hände auf die Schulter. "Es wäre gut, wenn ihr andere Augenzeugen finden könntet. Aber findet vor allem den Feldwebel! Und denkt an meine Worte – behaltet die Umstände seines Todes für euch, oder man wird euch massakrieren!"