Das Drama des DschungelsAlle reden vom Klimawandel, von schmelzenden Gletschern, heißen
Sommern und Wirbelstürmen. Um den Regenwald in Südamerika,
einst das liebste Sorgenkind der Umweltschützer, ist es still geworden.
Heißt das etwa, ihm geht es heute besser? Wir sind ins Herz des
Dschungels gefahren und widmen dieser Expedition ein ganzes Heft.
Ein Bericht aus Amazonien, der leider wenig Hoffnung macht.Als unser Bootsführer nach zwei Stunden Fahrt den Motor ausschaltet, um
Benzin nachzufüllen, wird zum ersten Mal klar, was der brasilianische
Regenwald wirklich ist:
Stille.
4,1 Millionen Quadratkilometer Stille. Kein tropisches Tollhaus, wie man es
aus dem Zoo kennt oder den Tier- und Abenteuerdokus im Fernsehen:
kreischende Papageien, schreiende Affen, heulende Wildkatzen. Auf dem
Rio Negro, fünfzig Kilometer stromaufwärts von Manaus, summen nicht
einmal die Mücken. Eine ganz und gar unerwartete Ruhe umgibt uns im
Herzen des größten Dschungels der Erde. Verwirrt beginnt das Gehirn zu
suchen nach irgendeinem Geräusch, dem Knarren eines Baumes am Ufer,
dem Flügelschlag eines Vogels, dem Gluckern eines Wasserstrudels, dem
zarten Hauch des Windes. Aber der stoische Wald und sein Fluss
verweigern jedes Lebenszeichen.
...
Der Rio Negro: einer der größten unter den 1100 Amazonas-Nebenflüssen,
dreißig Kilometer breit an manchen Stellen. Links und rechts vom Boot
zeichnet sich in blassem Grün der Wald am Ufer ab, der aus zwei oder drei
Kilometern Abstand abweisend wirkt wie eine undurchdringliche Wand.
Nach vorne Wasser bis zum Horizont, Wasser und Himmel, ein Ausblick wie
auf dem offenen Meer. Die Regenzeit neigt sich dem Ende zu, der
Wasserspiegel ist seit der verheerenden Dürre im Amazonasbecken vor
zehn Monaten um 17 Meter gestiegen. Eben kam wieder ein Guss vom
grauen Himmel, eine warme Dusche, bei dreißig Grad Lufttemperatur. Wir
werden nass bis auf die Haut und schwitzen trotzdem.
Etwas später erreichen wir unser Quartier, eine leer stehende Urwaldlodge
am Ufer eines Seitenarms des Rio Negro. Die Sonne hat einige Lücken in
die Wolken gefressen, der ganze Wald dampft und tropft. Direkt hinter der
Lodge wuchert Dickicht, das gleichzeitig zu verrotten scheint.
Schimmelgeflechte und Moose haben Bäume, Sträucher und Blätter in allen
Farben überzogen, weiß, rot, grün, braun, schwarz. Dicke Lianen winden
sich um die Stämme wie Würgeschlangen um ihr Opfer. Das diffuse Licht
an diesem Tag unterstreicht den morbiden Charakter der Landschaft.
Selbst bei strahlend blauem Himmel würde das Blätterdach der vierzig,
fünfzig Meter hohen Bäume die meisten Sonnenstrahlen wegfiltern.
Die Tierwelt präsentiert sich an Land kaum üppiger als zu Wasser, mit
Ausnahme der absurd fleißigen Ameisenheere. Den ganzen Abend über ist
nicht mehr zu hören als Froschgequake und vereinzelt der gellende Schrei
des Tukans – ein schwarzer Spechtvogel mit einem überdimensionierten,
bunten Schnabel. Henry Walter Bates, einer der großen britischen
Naturforscher, schrieb 1863, die seltenen Schreie der Vögel verstärkten
eher noch »das Gefühl der Einsamkeit« im brasilianischen
Amazonasgebiet, »als dass sie ihm einen Hauch von Leben und Heiterkeit
verleihen würden«.
...
Von der Kabine unseres kleinen Propellerflugzeugs aus unterscheidet sich
die Gegend um Santarém kaum von Schleswig-Holstein oder Niederbayern:
Ackerflächen bis zum Horizont, dazwischen Waldstreifen. Manche dieser
Streifen sind kaum breiter als Hecken, auffällig oft stehen sie am
Straßenrand, so als versuchte jemand, die gerodeten Flächen dahinter zu
verbergen. Einzelne Paranussbäume ragen aus den grünen Feldern und
wirken so, als hätten sie sich verirrt. Zwei Stunden kreisen wir über der
Region, nur einmal sehen wir eine geschlossene Waldfläche: Es ist der
Tapajós-Nationalpark.
Ein Gesetz verbietet den Landbesitzern, mehr als zwanzig Prozent der
Bäume auf ihrem Grund zu fällen. Daran hält sich offensichtlich kein
Mensch. Das Abholzungsverbot für Paranussbäume wird auch nur
respektiert, weil die Bauern wissen, dass sich das Problem von selbst
erledigt: Schutzlos dem Wind und der Sonne ausgesetzt, überleben die
Bäume meist nicht lange.
...
Seit 1960 wurde knapp ein Fünftel des Waldes abgeholzt, mehr als zweimal
die Fläche von Deutschland. Wenn der Kahlschlag im selben Tempo
weitergeht, wird bis 2050 fast die Hälfte des brasilianischen Regenwalds
vernichtet sein. Wahrscheinlich kommt es noch schlimmer: Der weltweite
Hunger nach Fleisch ist längst nicht gesättigt, aufstrebende Länder wie
China verlangen nach mehr.
In Zeiten explodierender Ölpreise hat der
Westen zudem begonnen, seinen Durst nach Biokraftstoffen am Amazonas
zu stillen. Biodiesel aus Soja. »Man müsste keinen weiteren Baum am Amazonas fällen«, sagt Alfredo
Homma, Ökonom am Embrapa, dem Forschungsinstitut des
brasilianischen Agrarministeriums. Den Landwirten stünden bereits siebzig
Millionen Hektar offene Flächen zur Verfügung – das sei mehr als genug. Es
gibt nur ein Problem, fügt er hinzu: »Einen Hektar ausgelaugten Boden so
weit zu pflegen, dass er wieder bebaut werden kann, kostet 800
brasilianische Real. Einen Hektar Wald abzuholzen kostet 350 Real. Den
Wald niederzubrennen kostet ein Streichholz.«
...
Regina Luizão, Biologin am AmazonasForschungsinstitut Inpa, kratzt eine
Schicht Laub vom feuchten Boden weg. Eine weitere Schicht kommt zum
Vorschein. Und noch eine. »Davon lebt der Wald«, sagt sie: »Blätter!« Mit
jeder tieferen Schicht ist das Laub ein Stück mehr verrottet. »Die Blätter, die
frisch von den Bäumen gefallen sind, fressen Termiten und Ameisen. Was
übrig bleibt, zerkleinern Pilze und Mikroorganismen.« Dabei werden
Phosphor, Kalzium und andere Mineralien freigesetzt. Die Bäume nehmen
die Nährstoffe sofort über ihr Wurzelgeflecht auf.
»Im Regenwald speichert
nicht der Boden die Nährstoffe, das machen die Pflanzen. Man kann auch
einfach sagen: Der Regenwald ernährt sich selbst.«
Der Boden allein besteht hauptsächlich aus Sand. Kein Humus, nichts. Die
Regenfälle, durchschnittlich 2500 Millimeter pro Quadratmeter im Jahr –
dreimal so viel wie in Deutschland –, spülen fast alle Mineralien weg. Den
Rest vernichtet die Äquatorsonne, die das ganze Jahr über mit gleich
bleibender Intensität auf die Erde sticht.
...
Schon immer legten die Siedler ihre Äcker bevorzugt in der Nähe dieser Flüsse
an. Wohl wissend, dass sich nur ein Bruchteil des Dschungels für den Ackerbau
eignet.
Der große Rest ist »Regenwald auf Wüste«, wie die Forscher sagen.
Holzt man ab, bleibt nur Ödnis....
Warum gedeihen auf einem kargen Sandboden so viele Arten wie
nirgendwo sonst? Warum leben vierzig bis fünfzig Prozent aller Organismen
in tropischen Regenwäldern, die nur zwei Prozent der Erde bedecken? Die
banale Antwort lautet: ausreichend Wasser und 365 Tage Sonne im Jahr.
Das bedeutet 365 Tage Energie, um Photosynthese zu betreiben und
Kohlenhydrate in den Regenwald einzuspeisen. Schätzungsweise siebzig
bis neunzig Prozent aller Tiere und Pflanzen des Regenwalds leben
deshalb in seinem Kronendach.
...
Eine Frage, die sich in dem Gestrüpp verschiedener Interessen stellt: Ist es
wirklich am Westen, der seine Wälder schon vor Jahrzehnten oder
Jahrhunderten abholzte, nun den Brasilianern Ratschläge zu erteilen?
Aus Sicht der brasilianischen Regierung ist der Schutz des Regenwaldes
eines von vielen Problemen, jedenfalls nicht das wichtigste: Ein Drittel der
Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze, jeder achte Brasilianer
hungert. Das Land drückt ein gigantischer Schuldenberg von 160 Milliarden
US-Dollar – so viele Schulden hat kaum eine andere Nation der Erde.
Trotzdem will Brasilien weiter aufsteigen im Club der weltweit größten
Wirtschaftsmächte. Mit einem Milliardenprogramm plant die Regierung die
Infrastruktur des Amazonasgebiets zu verbessern, das fast die Hälfte des
staatlichen Territoriums ausmacht. Neue Straßen, Bahntrassen, Häfen,
Flughäfen, Stromleitungen und Staudämme sollen entstehen.
...
Halb sechs Uhr morgens auf der Plattform eines schmalen Stahlgerüsts,
das mit 53 Meter Höhe über die höchsten Baumwipfel hinausragt: ...
Türme wie dieser, sechzig Kilometer nördlich von Manaus, wurden überall
im Regenwald installiert. Sie messen den Austausch von Gasen,
Flüssigkeit und Wärme zwischen Wald und Atmosphäre.
Man weiß, dass
der südamerikanische Urwald drei Viertel seines Regens selbst produziert.
Das Wasser verdunstet über dem Amazonasgebiet, steigt in die
Atmosphäre auf und regnet sofort wieder über dem Wald ab. Eine bisher
unbewiesene, aber unter Forschern verbreitete Theorie: Die Abholzung der
Wälder gefährdet dieses Gleichgewicht.
Irgendwann könnten so viele
Bäume gefällt sein, dass der verbleibende Wald nicht mehr genügend
Wasser an die Atmosphäre abgibt, um die 2000 Millimeter Regen im Jahr
zu produzieren, die er zum Überleben braucht. Anstelle des Regenwalds
bliebe nur noch Savanne zurück. Viele Experten glauben, dass es so weit
sein wird, wenn dreißig Prozent der Wälder abgeholzt sind.
Es fehlen also
nur noch zehn Prozent. ..."
[ Der Beitrag hat insgesamt 8 pralle Seiten mit einer Menge Fakten und einem umfassenden Rundumblick auf das maßgebliche ökologische und soziale Gefüge innerhalb dessen sich das gesamte Geschehen abspielt.
Sehr lesenwert, finde ich! <img src="/ubbthreads/images/graemlins/up.gif" alt="" /> <img src="/ubbthreads/images/graemlins/up.gif" alt="" /> <img src="/ubbthreads/images/graemlins/up.gif" alt="" />
<img src="/ubbthreads/images/graemlins/puppyeyes.gif" alt="" /> ]
Mal wieder typisch Mensch!
![[Linked Image]](http://www.larian.com/ubbthreads/images/icons/mad.gif)
Fingert in komplexen Ökosystemen rum, ohne auch nur einen Deut an Peil von den tatsächlichen Grundlagen zu haben... und wie dünn und empfindlich selbige häufig sind. <img src="/ubbthreads/images/graemlins/suspicion.gif" alt="" />
Das aber die gegenwärtige Wiege brodelnden, wuchernden Lebens auf der Erde im wahrsten Sinne des Wortes so sehr
"nur auf Sand gebaut" ist (und damit auch jegliche Vorhaben intensiver Bewirtschaftung, sei es Agrar- oder Viehzucht oder sonstiger Raubbau <img src="/ubbthreads/images/graemlins/ouch.gif" alt="" /> ), daß war mir in der frappierenden Deutlichkeit auch noch nicht bewußt! <img src="/ubbthreads/images/graemlins/eek.gif" alt="" /> <img src="/ubbthreads/images/graemlins/ohh.gif" alt="" />
Ragon - wenn er nur zaubern könnte! <img src="/ubbthreads/images/graemlins/puppyeyes.gif" alt="" />