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Illegitim vielleicht nicht... denn jeder kann machen, was er will. Allerdings würde ich beim Begriff "unmoralisch" vorsichtig sein. Man darf nicht vergessen, daß die Union selbst bis vor kurzem der Türkei den Beitritt stets vor Augen gehalten hat. Als es allerdings immer wahrscheinlicher wurde, hat sie eine 180°-Drehung hingelegt und lehnt den Beitritt der Türkei nun ab. Daß das ganze nur deshalb so geschieht, weil sich die Union bei denjenigen anbiedern will, die eben nur aus fragwürdigen Gründen gegen einen Türkei-Beitritt sind und weil sie nicht gerade viel über die Angelegenheit wissen, ist mir zumindest klar. Insofern will die Union niemanden aufklären, sondern die Stimmung in der Bevölkerung, die auf Grund fehlender oder falscher Auseinandersetzung mit dem Thema vorhanden ist, für ihre Zwecke ausnützen und damit den Rückgang bei den Umfrageergebnissen stoppen. Genau das gleiche haben sie auch in Hessen veranstaltet, als es gegen die doppelte Staatsbürgerschaft ging. Mit dem Ergebnis, daß Roland Koch die Wahl gewann, die Union damit die Mehrheit im Bundesrat bekam und die Reform des Staatsbürgerschaftsgesetzes blockierte.
Sowas nennt man im Allgemeinen schlichtweg Populismus - dem Volk aufs Maul schauen und dementsprechend die eigenen Vorgehensweise ändern, ganz gleich, was man selbst denkt oder vor einigen Jahren gar öffentlich von sich gegeben hat.
Wenn Du mit dieser Art und Weise keine Probleme hast, dann beglückwünsche ich Dich.


Ich gebe zu, ich weiß nicht, wann die Union ihren Kurs geändert hat. Aber die Angie redet doch schon lange von einer privilegierten Partnerschaft, könnte es sein, daß die Kehrtwende mit dem Führungswechsel in der Union kam?
Abgesehen davon habe ich kein Problem damit, wenn jemand dem Volk auf's Maul schaut. Dafür sollten Politiker eigentlich da sein. Ich habe auch kein Problem damit, wenn jemand seine Position ändert, weil er entweder einsieht, daß er falsch lag, oder weil er einsieht, daß das Volk etwas anderes will, oder was hältst Du z.B. von Kerrys jetziger Ablehnung des Irakkriegs? Daß dies nicht die Hauptmotivation der Union ist, gebe ich zu. Man hört halt besonders gerne aufs Volk, wenn man in der Opposition ist. Gut möglich daß die Union, käme sie morgen an die Regierung, plötzlich anderer Meinung wäre.


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Es geht nicht darum, OB jemand gegen einen Beitritt oder gar gegen Beitrittsverhandlungen ist, sondern WARUM jemand so denkt. Und bei der Union geht es - wie erwähnt - vor allem darum, daß sie sehr lange Zeit dafür war und nun, als Kontrapunkt gegen den Regierungskurs, dagegen ist. "Fähnlein im Wind"...
Abgesehen davon hat die deutsche Regierung bei ihre Entscheidungen sehr wohl auf verschiedenste Interessengruppen zu achten, auf was denn bitte sehr sonst? Immerhin vertritt sie die Interessen der Bevölkerung, so hat sie auch auf das Volk zu hören. Daß die Türken nicht wahlberechtigt sind, senkt ihre Bedeutung in diesem Interessenkarussel jedoch beträchtlich... und damit hat die Regierung nicht so sehr auf die Türken zu achten wie auf eventuelle andere Gruppen.
Das ändert aber nichts an der Tatsache, daß es ein Trugschluß ist zu denken, daß man in der Außenpolitik frei von der Leber weg entscheiden würde. Ganz zu schweigen davon, daß Deutschland eigentlich gar keine Entscheidung zu treffen hat... denn es gibt klipp und klar gewisse Kriterien, die der Türkei gestellt wurden, und wenn sie sich an diese hält, dann sehe ich - ähnlich wie Stone - keinen Grund gegen einen Beitritt. Außer natürlich, die EU wollte sich komplett unglaubwürdig machen... was im Zusammenhang mit dem letzten Golfkrieg ja fast schon erreicht war.

Du widersprichst dir hier selbst. Auf die Mehrheit des Volkes zu hören ist "Populismus", "dem Volk auf's Maul schauen", "Fähnlein im Wind", auf die Minderheit zu hören ist "auf das Volk hören". Aber zum Glück relativierst Du diese Aussage ja selbst.
Daß Deutschland (ich würde eher sagen Europa) keine Entscheidung zu treffen hat, kann ja wohl nicht Dein ernst sein, oder? Von wem muß sich Europa seine Beitrittsentscheidungen denn diktieren lassen? Von der Türkei? Von Amerika?

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Und bevor jemand fragt: Ja, ich bin gegen den EU-Beitritt. Nunja, die EU ist meiner Meinung nach so oder so zum Scheitern verurteilt.

Und mit welcher Begründung? (abgesehen davon, daß es zuerst nur um Beitrittsverhandlungen geht)

Daß es im Moment um Beitrittsverhandlungen geht, ist mir klar. Aber soll ich sagen "ich bin gegen Beitrittsverhandlungen"? Das stimmt zwar auch, ist aber eine Folge von ersterem und nicht dessen Ursache.

Zu Punkt 1.
- Die Türkei gehört einem anderen Kulturkreis an, als Europa. Ich hätte kein generelles Problem mit einer Wirtschaft oder Währungsunion mit der Türkei. Aber die EU ist mehr als das.
- Die Türkei wird bei ihrem Beitritt oder kurz danach das Bevölkerungsreichste Land der EU sein, und somit großen Einfluß auf die EU-Politik haben. Das stellt deswegen ein Problem dar, weil eben in vielen Bereichen die Interessen der Türkei und der anderer europäischer Länder sich entgegenstehen. Und der Türkei traue ich in etwa so viel diplomatische Feinheit zu, wie Polen. Erdogan hat ja bereits angekündigt, daß für ihn türkische Interessen an erster Stelle stehen (was ich ihm nicht übelnehmen kann!). Das würde das Ende eines (kaum wahrnehmbaren) Reformprozesses bedeuten und die EU in ihrem momentanen undemokratischen Status Quo erstarren lassen.
- Es ist möglich, daß durch die EU die Gesellschaftsform der Türkei unterwandert wird. Ich gebe zu, hier kenne ich mich womöglich zu wenig aus. Ich weiß z.B. nicht, ob es in der Türkei erlaubt ist, seine Kinder auf eine islamisch geprägte Privatschule zu geben. Mit dem EU-Beitritt wäre die Möglichkeit gegeben, dies im europäischen Ausland zu tun, oder zumindest die Kinder z.B. zum Onkel nach Deutschland zu geben, wo an den Schulen kein Kopftuchverbot herrscht.
- Die Türkei hat Grenzen zu Ländern, auf die ich im Moment nicht scharf als Nachbarstaaten der EU bin.
- Die Türkei hat völkerrechtswidrig halb Zypern annektiert, hält das bis heute für ordentliche Politik, hat extra Festlandtürken in Nordzypern angesiedelt, um die Annexion zu manifestieren und erkennt bis heute die Republik Zypern nicht an.
- Die mit der EU einhergehende freie Wohnsitzwahl würde ohne Zweifel ein Wanderungswelle von der Türkei nach Europa und insbesondere nach Deutschland nach sich ziehen. Ich halte dies für höchst bedenklich.
- Die Mehrheit der Bürger der jetzigen EU ist gegen einen Beitritt. Das ist kein Grund gegen einen Beitritt zu sein, aber ein Grund gegen den Beitritt. Ich war auch immer für den Euro, aber trotzdem immer schon der Meinung, daß dieser in Deutschland nicht hätte eingeführt werden dürfen.

Ich bin übrigens an Gründen für einen Türkeibeitritt durchaus interessiert. Ich war lange Zeit relativ unentschlossen, aber letztlich habe ich für einen Türkeibeitritt nur "Signal an islamische Welt" "Wir haben's ihnen versprochen" (zu EWG-Zeiten) und "Wer dagegen ist, ist Ausländerfeindlich" vernommen.

Letze Woche gab es in der Zeit übrigens einige gute Berichte über das Thema. (Edit: Der letze Satz ist unabhängig von den vorherigen zu sehen. Ich merke gerade es liest sich, als ob in der Zeit die von mir genannten Gründe für einen Beitritt drinstehen. War nur als Hinweis gedacht.)

Zu Punkt 2.
Die EU wird scheitern, weil sie so von den Völkern Europas nicht gewünscht wird. Sie wird von den Machthabenden, die sich gerne in die Geschichtsbücher schreiben wollen, durchgesetzt. Die EU ist im Grunde so ähnlich, wie die durch Anheiratung wachsende K&K-Monarchie. Das Problem ist - so was geht gut, solange es gut läuft. Aber die nächste Krisenzeit wird irgendwann kommen, davon bin ich überzeugt. Ein Volk rückt zusammen in einer Krise, ein Vielvölkerstaat bricht auseinander. Das ist für mich eine Lehre aus der Geschichte. Bis auf die Schweiz (die aber sowohl historisch als auch politisch eine absolute Ausnahmeerscheinung ist) gibt es kein Gegenbeispiel für diese Theorie.
Erschwerend kommt für die EU hinzu, daß sie nicht nur ein undemokratisches Gesetzgebungsverfahren hat, sondern beinahe ein Antidemokratisches. Die Gesetzgebung der EU in letzter Zeit ist der wahrgewordene Traum der amerikanischen Großindustrie, die ohne Rücksicht auf Verluste gegen die überwältigende Mehrheit der europäischen Bevölkerung durchgesetzt wird. Von der Gen-Gesetzgebung bis zu den Softwarepatenten.
Dann kommt die EU-"Verfassung", die diese Zustände noch manifestiert. Abstimmen dürfen wir natürlich nicht über sie, da wir ja einen mit verfassungsgebender Gewalt ausgestatteten Kanzler von Gottes Gnaden haben. Über nichts habe ich mich in letzter Zeit mehr aufgeregt, als daß Gerhard Schröder dem deutschen Volk offen ins Gesicht lügt ("Die deutsche Verfassung verbietet Volksabstimmungen"), und habe mir allein wegen diesen Satzes geschworen es lieber mit Ddraiggy zu halten und meinen Stimmzettel ungültig zu machen als ihn noch einmal zu wählen. Aber jetzt schweife ich ab...

Last edited by Flash; 12/10/04 04:23 PM.

"In jedem Winkel der Welt verborgen ein Paradies"