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Ehre mag ein Konstrukt sein, um eine gewisse Form von Justiz aufrecht zu erhalten, wo es keine staatliche justiz gibt, ist aber in einer modernen Demokratie überholt, da der Staat das Gewaltenmonopol hat (einmal vom Widerstandsrecht abgesehen).

Ich persönlich sehe Ehre als eine Art altertümliches, relikthaftes Gut an, das in einem modernen Staatsgebilde aus oben erwähnten Gründen obsolet geworden ist.

Ich finde, daß Du ein falsches Bild von diesem Konstrukt "Ehre" hast... diese sog. Ehrenmorde sind nicht immanent im Begriff der Ehre. Diese Ehrenmorder rühren von einer resignativ-archaischen Auffassung der sog. Familienehre. Der Bruder/Vater erschießt die Tochter, die die Familienehre beschmutzt.
Was ist die Familienehre? Kann es überhaupt eine Familienehre geben, also eine sozialisierte Form der Ehre, die an sich ein höchst subjektiver Begriff ist? Daraus erwächst meiner Meinung das Problem... das eigene wie auch immer geartete Ehrgefühl - das jeder in der einen oder anderen Art hat - wird auf einen gewissen Personenkreis, nämlich die Familie, projiziert und führt infolgedessen zu de facto unlösbaren Problemen, da - so lehrt uns die Historie - die meisten Menschen unterschiedliche Vorstellungen haben. Und dann kommt in diese Ehrendiskussion auch noch das romantisch-destruktive Element der Liebe hinzu... was eine Sprengkraft entwickelt, die im Extremfall zur Tragödie führt, dem Ehrenmord. Der Bruder/Vater fühlt sich in seiner kruden Ehre verletzt und damit die Familienehre, die er sich identisch zu seiner eigenen vorstellt, beschmutzt. Der einzige Weg, der ihm in dieser Situation beigebracht wurde, ist die Ermordung der Ehrbeschmutzer - der Tochter/Schwester und oft auch des Partners.

Aber das hat meiner Meinung nach nichts mit dem persönlichen Begriff der Ehre zu tun, wie ich versucht habe zu schildern. Die persönliche Ehre würde ich fast gleichbedeutend erachten wie die Moral. Jeder Mensch hat seine eigenen Moralvorstellungen, anhand derer er entscheidet, wie er handelt. Das entspricht ziemlich genau meinem Ehrenbegriff. Beispiele: Ein ehrenvoller Politiker läßt sich nicht bestechen. Ein ehrenvoller Mitarbeiter in einem Kaufhaus stiehlt nicht. Ein ehrenvoller Schüler schreibt nicht ab. Usw. Alles sehr hohle Beispiele, aber daran sieht man recht deutlich, daß man Ehre und Moral sehr schwer trennen kann.
Daß die Ehre/Moral indes teilweise die Justiz ersetzt, stimmt in Maßen sogar... aber nur in den Fällen, in denen man nicht von der Justiz beobachtet wird. Denn nur dann, wenn man mehr oder minder unabhängig entscheiden muß, handelt man auch moralisch - so oder so. Aber wenn mir z.B. der Lehrer im Nacken sitzt und ich sowieso nicht abschreiben kann, ist es nicht meine eigenen, ehrenvolle/-lose Entscheidung, nicht abzuschreiben.


Nigel Powers: "There are only two things I can't stand in this world. People who are intolerant of other people's cultures... and the Dutch!"