Heute vor 15 Jahren fingen die Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen an und dauerten mehrere Tage. Ich erinnere mich noch daran, als ob es gestern gewesen wäre - und finde, daß es sich dabei (noch vor den Anschlägen in Solingen und Mölln z.B.) um eine der schwärzesten Abschnitte in der deutschen Nachkriegsgeschichte und vor allem in der gesamtdeutschen Geschichte handelt. Folglich rege ich mich regelmäßig darüber auf, weswegen es hier wohl gut reinpaßt. Zumal einige hier zu jung sind, um das Ganze bewußt mitbekommen zu haben.
Daher möchte ich den heutigen Spiegel-Artikel dazu zitieren:

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Als der Mob die Herrschaft übernahm

Der Plattenbau brannte, die Masse johlte, Besoffene hoben die Hand zum Hitlergruß: Ende August 1992 eskalierte im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen der Fremdenhass, Ausländer bangten um ihr Leben. 15 Jahre danach ist nichts vergessen - und doch vieles beim Alten.

Hamburg - Sie campieren im Dreck, auf zerfetzten Matratzen, ohne sanitäre Anlagen - voller Hoffnung auf Asyl in einer besseren Welt. Die Wiese vor dem elfstöckigen Plattenbau in der Mecklenburger Allee 18 in der Rostocker Trabantenstadt Lichtenhagen ist ihr Zuhause geworden. Dort in dem Wohnblock mit dem Mosaik aus Sonnenblumen an der Außenwand ist seit Ende 1990 die zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber des Landes Mecklenburg-Vorpommern untergebracht.

Flüchtlinge müssen hier ein mehrtägiges Registrierungsverfahren über sich ergehen lassen. Doch das Haus ist hoffnungslos überbelegt. Viele der Sinti und Roma wissen nicht, wohin. In ihrer Not kriechen sie unter die Balkone im Erdgeschoss oder kauern sich an die kalte Hauswand. Mitleid allerdings kommt in der Nachbarschaft nicht auf - im Gegenteil. Viele Anwohner fühlen sich belästigt, schimpfen über die Zustände rund um das "Sonnenblumen-Hochhaus". Im Viertel schwelt die Aggression.

Die Katastrophe beginnt im August 1992 mit kleinen Schlägereien. Anwohner beschimpfen und bedrohen die Asylsuchenden. In der Nacht zum 23. August eskaliert die Situation - aufgestaute Wut und Ausländerhass brechen sich Bahn. Ein gewaltbereiter Mob aus überwiegend jugendlichen Rostockern umzingelt den Plattenbau mit dem Sonnenblumen-Mosaik. Die Randalierer bewerfen die Bewohner mit Steinen, zertrümmern Fensterscheiben und skandieren ausländerfeindliche Parolen.

Der Menschenauflauf wird schnell größer. Neugierige Gaffer schließen sich zu einer johlenden Menge zusammen. Die Einsatzleitung der Polizei weiß nicht, wie sie mit der Situation umgehen soll. Eine Panne jagt die nächste. So werden erst drei Stunden, nachdem die ersten Brandbomben flogen, Wasserwerfer eingesetzt, erst 18 Stunden nach den ersten Angriffen wird entsprechende Verstärkung angefordert. Die Beamten ziehen sich zurück, um die Lage zu besprechen - und überlässt dem Mob das Feld. Die unberechenbaren Angreifer schleudern Molotow-Cocktails und randalieren bis in die frühen Morgenstunden.

Am Mittag des 23. August rottet sich die geifernde Meute erneut vor dem Plattenbau zusammen. Die Rostocker Polizeidirektion hat noch immer kein Konzept gefunden und fordert verzweifelt Unterstützung aus Schwerin, Anklam, Stralsund und Güstrow an sowie zwei Hundertschaften des Bundesgrenzschutzes.

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Erst am dritten Tag, dem 24. August, werden rund 200 Asylbewerber unter dem Schutz zweier Hundertschaften in Sicherheit gebracht. Was auf Entspannung hoffen lässt, ist jedoch der Beginn des traurigen Höhepunktes: Die Polizei rückt nach der Evakuierung ab, obwohl sich 3000 Menschen auf der Straße vor dem "Sonnenblumen-Hochhaus" versammeln. Eine bizarre Volksfeststimmung macht sich breit.

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Nach dem Schock von Rostock-Lichtenhagen haben viele Menschen das Bedürfnis, ein Zeichen zu setzen, etliche Bürgerinitiativen gegen Rechts bilden sich. Ein Jahr später werden viele Randalierer wegen versuchten Mordes, schwerer Brandstiftung oder Landfriedensbruch verurteilt. Den letzten Tätern wird im November 2001 vor dem Schweriner Landgericht der Prozess gemacht. Er endet mit Bewährungsstrafen wegen Mordversuchs und schwerer Brandstiftung. Insgesamt kommt es zu weit mehr als 30 Prozessen. Das Ergebnis: rund 40 Verurteilungen und Strafbefehle.

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Bei der Landtagswahl im vergangenen Jahr kam die NPD in Lichtenhagen auf 6,1 Prozent, im Landesdurchschnitt sogar auf 7,3 Prozent. Im Landtag sitzen sechs Abgeordnete der Rechtsextremen. "Wenn man die Kinder so erzieht, wie es sich gehört, dürfte so etwas nicht noch mal kommen", sagt eine ältere Rostockerin im Gespräch mit SPIEGEL TV und erklärt direkt im Anschluss, dass ihrem Enkel von einem "Zuwanderer" das Handy geklaut worden sei. Auch wenn er es wieder bekommen habe - "wir müssen uns das nicht gefallen lassen".

(Quelle: Spiegel ONLINE)

Eine weitere wohl bekannte Informationsquelle ist Wikipedia:
http://de.wikipedia.org/wiki/Ausschreitungen_von_Rostock-Lichtenhagen

Daraus:

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Juristische Aufarbeitung

Die strafrechtliche Verfolgung erwies sich als sehr schwierig, da es nur wenig qualifizierte, d.h. beweissichernde Festnahmen gab. Die Verfolgung der Straftäter dauerte auf Grund von Unterkapazitäten der zuständigen Behörden bis zu 10 Jahre. Es wurden Strafen von bis zu zweieinhalb Jahren Haft ausgesprochen.

Die Masse der jugendlichen und heranwachsenden Täter, derer die Justiz habhaft werden konnte, wurden 1993/1994 in Rostock nach der Beweisaufnahme wegen Landfriedensbruchs und Brandstiftung zu geringfügigen Sanktionen verurteilt. Nur wenige kamen in Haft.

Ronny S., 27, André B., 28, und Enrico P., 28, wurden von der Staatsanwaltschaft Schwerin - anders als die bisherigen Angeklagten, deren Verfahren von der Staatsanwaltschaft Rostock bearbeitet worden waren - nicht nur wegen versuchter Brandstiftung und Körperverletzung, sondern auch wegen versuchten Mordes angeklagt. Dies war durch ein anderes Urteil wegen eines Brandanschlags auf das Asylbewerberheim in Boizenburg/Elbe möglich geworden, in welchem der Bundesgerichtshof auf Revision der Staatsanwaltschaft Schwerin entschieden hatte, dass bei Angriffen mit Brandflaschen auf bewohnte Häuser eine Verfahrensführung und Untersuchung unter dem rechtlichen Gesichtspunkt versuchten Mordes geboten ist. Durch die Anklage wegen Mordes war es Opfern der Tat auch möglich, sich als Nebenkläger dem Verfahren anzuschließen, was ein damals im Haus eingeschlossener Vietnamese und dessen anwaltliche Vertretung in der Hoffnung nutzten, dadurch Nachahmungstäter abzuschrecken. Die Höchststrafe in diesen Prozessen 10 Jahre nach den Anschlägen belief sich auf 3 Jahre Jugendstrafe, da Jugendstrafrecht gegen die zum Tatzeitpunkt noch keine 21 Jahre alten Täter anzuwenden war.


Auch kann man bei Wikipedia einen interessanten Film herunterladen, "The truth lies in Rostock". Einfach bei den Weblinks nachschauen.


Zusammenfassend bleibt mir zu sagen: Ich war und bin immer noch erschüttert darüber, was da passiert ist. Traurig und zugleich wütend. Daß das ganze in der ehemaligen DDR geschah, erst 2 Jahre nach der Einheit, gab dem ganzen noch eine besondere Würze, wie ich finde.

Eine Sache, die damals "besser" war: Die Ausschreitungen und rechtsextremistische Umtriebe wurden eher allgemein verurteilt, wenn sie verurteilt wurden. Heute hört man öfter das Argument "Das ist nicht gut, es schadet dem Wirtschaftsstandort Deutschland". Ja, daß ein Haufen Inder durch eine Stadt gejagt wird, schadet der Wirtschaft... das ist das Wichtigste. <img src="/ubbthreads/images/graemlins/suspicion.gif" alt="" />


Nigel Powers: "There are only two things I can't stand in this world. People who are intolerant of other people's cultures... and the Dutch!"