Nun, es ist es also so weit: Die EU-"Verfassung" wurde im Bundestag mit großer Mehrheit angenommen. Die Politiker beglückwünschen sich gegenseitig, ob dieser "historischen Entscheidung", die meisten Bürger haben keine Ahnung was da eigentlich drinsteht, und stehen etwas ratlos dabei, finden aber im allgemeinen nichts auszusetzen, schließlich wurde man ja medial lange genug auf dieses tolle Ereignis vorbereitet.
Aber irgenwie kann ich meinen Mund im Angesicht dessen, was sich da abspielt nicht mehr halten. Vielleicht, weil ich mich für Geschichte interessiere, vielleicht, weil ich gemerkt habe, mit welch schamlosen Lügen dieses Vertragswerk an den Bürger verkauft wird, vielleicht, weil ich mal angefangen habe darin zu lesen. Ich kann nicht alles ausführen, was ich gerne wollte, deswegen beschränke ich mich auf das, was ich für das wichtigste halte. Sei's drum, los geht's.


1. Legitimation
Wer hat eigentlich das Recht, eine Verfassung zu erlassen? Klassischerweise gibt es zwei Verfassungsrechtfertigungen. Das Gottesgnadentum, und die Volkssouveränität. Die Verfassung des Deutschen Reichs von 1871 berief sich auf das Gottesgnadentum Wilhelms I, die Weimarer Reichsverfassung wurde per Volksabstimmung legitimiert. Das Grundgesetz erfüllt keines der beiden Kriterien, und dessen waren sich seine Väter durchaus bewußt, weshalb sie es eben Grundgesetz nannten, und einfügten, daß es an dem Tage seine Gültigkeit verliert, "an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist." (Art. 146) Empfehlenswert hierzu und überraschend aktuell eine Rede von Carlo Schmidt (SPD) aus dem Jahre 1948. Ein kleines Zitat:
"Freilich weiß jeder von uns, dass man Ordnungsgesetze anderer Art auch schon Verfassung genannt hat, zum Beispiel die oktroyierten "Verfassungen" der Restaurationszeiten, etwa die "Charte" von 1814. Diese oktroyierten Verfassungen waren zweifellos gelegentlich technisch nicht schlecht, und die Fürsten, die sie gegeben haben, mochten dann und wann durchaus gute Absichten gehabt haben; aber das Volk hat diese Dinge nie als Verfassungen betrachtet, und die Revolutionen von 1830 sind nichts anderes gewesen als der Aufstand der Völker Europas gegen die oktroyierten Verfassungen, die nicht im Wege der Selbstbestimmung freier Völker entstanden, sondern auferlegt worden sind."
Nun, eine solche Art von Bewußtsein fehlt den heutigen Politikern, und so hat man kein Problem damit, das, was in Komissionen ausgebrütet und von Parlamenten verabschiedet wird, als Verfassung zu bezeichnen, obwohl weder irgendeiner Europäischen Komission noch dem deutschen Bundestag jemals verfassungsgebende Gewalt übertragen worden ist. Mit welchem Recht wird dem Volk die Abstimmung über dieses Werk verwehrt? Nun, Bundeskanzler Gerhard Schröder meinte dazu wörtlich "Die deutsche Verfassung verbietet Volksabstimmungen." Nun, das er nicht weiß, was eine Verfassung ausmacht, wissen wir jetzt ja bereits, aber das er auch nicht weiß, was im Grundgesetz steht, hoffe ich doch ausschließen zu können. Und so bleibt als einzige Möglichkeit, daß dieses Aussage ein bewußte und schamlose Lüge ist, denn die einzige Erwähnung von Volksabstimmungen im Grundgesetz findet sich in Art. 20 (2): "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt."

2. Vorrecht von EU-Verfassung gegenüber dem Grundgesetz
Direkt zusammenhängend mit Punkt 1: Was gilt eigentlich, wenn sich EU und Grundgesetz gegenüberstehen? Vor ein paar Monaten hat man erfahren können, wie die Bundestagsabgeordneten darüber denken: Der europäische Haftbefehl widersprach klar dem Grundgesetz. Da wurde eben heimlich, schnell und leise mal das Grundgesetz geändert, ohne daß man viel davon mitbekommen hätte.
Aber was sagt die "EU-Verfassung" selbst dazu?
ARTIKEL I-6 Das Unionsrecht
Die Verfassung und das von den Organen der Union in Ausübung der der Union übertragenen
Zuständigkeiten gesetzte Recht haben Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten.

Wie in 1. klarwurde, kann die "EU-Verfassung" keine Abschaffung des Grundgesetzes sein, da dies Artikel 146 verletzen würde. Trotzdem behauptet die EU-Verfassung über dem Grundgesetz zu stehen. Ist es vielleicht ein Änderung des Grundgesetzes?
Artikel 79
(1) Das Grundgesetz kann nur durch ein Gesetz geändert werden, das den Wortlaut des Grundgesetzes ausdrücklich ändert oder ergänzt.

Hmm.

3. Präambel
Die interessante Frage bezüglich der Präambel des Grundgesetzes schien ja stets zu sein, ob sie einen Gottesbezug enthalte oder nicht. Auch wenn ich persönlich diesen gerne darin gesehen hätte, so halte ich dies doch nicht für so ausschlaggebend. Interessant ist vielleicht, daß die Präambel beginnt, mit den Worten "SCHÖPFEND aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas, aus dem sich die unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen sowie Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte entwickelt haben", man sich jedoch außerstande sieht, dieses Erbe Europas irgendwie zum Ausdruck zu brinden. Am entlarvendsten ist jedoch die Klausel "IN WÜRDIGUNG der Leistung der Mitglieder des Europäischen Konvents, die den Entwurf dieser Verfassung im Namen der Bürgerinnen und Bürger und der Staaten Europas erarbeitet haben" - hier wird den Bürgern schon in der Präambel klargemacht, wem sie in Zukunft zu huldigen haben - den Bürokraten Brüssels. Das letzte mal, als in Deutschland in einer Verfassungspräambel auf bestimmte Personen bezug genommen wurde, war man zumindest noch ehrlich was den Ursprung der Verfassung betraf: "Wir Wilhelm, von Gottes Gnaden Deutscher Kaiser, König von Preußen etc. verordnen hiermit im Namen des Deutschen Reichs.."


4. Gesetzgebung
Kommen wir also zu dem Teil, der mich ursprünglich dazu brachte, mich mit dieser Verfassung auseinanderzusetzen: Der Gesetzgebung. Ein kleiner Vergleich:
Verfassung des Deutschen Reichs, 1871
Art. 23 Der Reichstag hat das Recht, innerhalb der Kompetenz des Reichs Gesetze vorzuschlagen und an ihn gerichtete Petitionen dem Bundesrathe resp. Reichskanzler zu überweisen.
Weimarer Reichsverfassung
Artikel 68
(1) Die Gesetzesvorlagen werden von der Reichsregierung oder aus der Mitte des Reichstags eingebracht.

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland
Artikel 76
(1) Gesetzesvorlagen werden beim Bundestage durch die Bundesregierung, aus der Mitte des Bundestages oder durch den Bundesrat eingebracht.

"EU-Verfassung"
ARTIKEL I-26
(2) Soweit in der Verfassung nichts anderes festgelegt ist, darf ein Gesetzgebungsakt der Union nur auf Vorschlag der Kommission erlassen werden. Andere Rechtsakte werden auf der Grundlage eines Kommissionsvorschlags erlassen, wenn dies in der Verfassung vorgesehen ist.


Im Klartext: Die EU-Verfassung verwehrt der gewählten Volksvertretung das Recht der Gesetzgebungsinitiative, ein Recht, das sie in Deutschland schon seit 1871 hat, und in vielen deutschen Ländern noch länger. Die legislative Gewalt kann keine Gesetzesvorschläge einbringen. Dies erledigen Vertreter der Exekutive der Mitliedsländer, die bestenfalls eine indirekte demokratische Legitimation haben. Gewaltenteilung adé.


5. Verfassungsänderungen
Wer hat in Geschichte aufgepaßt? Wer erinnert sich, daß Hitler damals die Mitglieder der KPD gewaltsam vom Reichstag fernhalten mußte, um das verfassungsändernde Ermächtigungsgesetz durchzubringen, weil er sonst keine Zweidrittelmehrheit erhalten hätte? Nun, in Europa hätte er es da ein bißchen einfacher gehabt. Um die EU-Verfassung zu ändern ist überhaupt keine Zustimmung des Europäischen Parlaments notwendig.
Zugegebenermaßen war das ein bißchen Polemik, weil eine Verfassungsänderung in jedem Mitgliedsstaat ratifiziert werden muß, was nicht so einfach sein dürfte, aber eine Verfassungsänderung ohne Beteiligung der Volksvertretung erscheint mir trotzdem sehr seltsam.

6. Fragwürdige Formulierungen
Ein paar Blüten der neoliberalen Diktion der "Verfassung":
ARTIKEL I-3 Die Ziele der Union
(2) Die Union bietet ihren Bürgerinnen und Bürgern einen Raum der Freiheit, der Sicherheit
und des Rechts ohne Binnengrenzen und einen Binnenmarkt mit freiem und unverfälschtem
Wettbewerb.
ARTIKEL III-146 (2) Die Liberalisierung der mit dem Kapitalverkehr verbundenen Dienstleistungen der Banken und Versicherungen wird im Einklang mit der Liberalisierung des Kapitalverkehrs durchgeführt.
ARTIKEL III-147 (1) Die Maßnahmen zur Liberalisierung einer bestimmten Dienstleistung werden durch Europäisches Rahmengesetz festgelegt. Es wird nach Anhörung des Wirtschafts- und Sozialausschusses erlassen.


7. Zusammenfassung:
Meiner Meinung nach, ist eigentlich vollkommen offensichtlich was diese "Verfassung" darstellt. Diese Verfassung, die keine Legitimation besitzt, die die teilweise hart erkämpften Parlamente der europäischen Nationen ihrer noch gebliebenen Macht beraubt um sie an eingesetzte Komissionen zu übergeben, die als zweitwichtigstes Ziel der Union einen "freien und unverfälschten Wettbewerb" propagiert, führt nicht nur amerikanische Verhältnisse in Europa ein, sondern ist letzlich der papiergewordene Totengräber der Demokratie in Europa.


"In jedem Winkel der Welt verborgen ein Paradies"