Nun, in "Witcher" neutral zu bleiben, habe auch ich als ausgesprochen schwierig empfunden. Eigentlich gibt es keine wirkliche Neutralität - nur "das kleinere Übel".


Zuerst habe ich mich *für* Abigail entschieden - nicht nur, weil sie mMn das kleinere Übel darstellte und möglicherweise der Mob durch Geralts Ansprache ja die eigene Mitschuld erkennt und tatsächlich einen Neuanfang wagt - die Hoffnung dabei wäre ja, die Welt wirklich ein bisschen besser zu machen (Leider klappt das ja so nicht), sondern auch, weil mitr die Szene der Hexenverhandlung wirklich unter die Haut ging (mMn die stärkste Szene im Spiel) und ich als Spieler einfach echte moralische Skrupel (!!) hatte, die durchaus mitschuldige Hexe dem hauptschuldigen Mob zu überlassen, dessen Schuld in meinen Augen viel, viel schwerer wog (im Geiste hörte ich schon die Flammen knistern und sah die Haut Blasen werfen).

Die Waren überließ ich übrigens den Anderlingen - und war später schockiert, welche eklatanten Auswirkungen das hatte.

Später pendelte ich eine Weile zwischen den Parteien, wobei ich hoffte (und anfangs auch den Eindruck hatte), Siegfried die Augen öffnen zu können und ihn von dem blinden Fanatismus seines Ordens zu überzeugen versuchte. Bei der Bank versuchte ich Leben zu schonen - was die Anderlinge übel nahmen. Irgendwo führte ich dann noch einige Ritter gegen Anderlinge ins Feld, was mir eigentlich überhaupt nicht gefiel, und bei der Geiselnahme rettete ich Alvin und machte mir beide Seiten zum Feind. Vermutlich ist das der einzige Weg, bei dem man parteilos (daswegen aber noch lange nicht neutral) bleibt. Im Abspann führten die getroffenen Entscheidungen schliesslich dazu, dass sich beide Parteien einander abschlachteten und die Wache des Königs anschliessend nur noch auffegen brauchte.

Übrigens konnte sich Geralt mit Siegfried - dank ihrer Freundschaft - gütlich einigen, obwohl Geralt für Siegfried als Feind galt. Und obwohl ich zufrieden war, das ich gegen den ehemaligen Kampfgefährten nicht die Waffe zu erheben brauchte, weil er sich in all dem Irrsinn wenigstens noch einen Rest von gesundem Menschenverstand bewahrt hatte und sich davon überzeugen ließ, dass der Schutz der Bürger wichtiger sei als das nachjagen hinter Anderlingen, so war ich doch bitter enttäuscht, das der von Zweifeln und Skrupeln geplagte Ritter zum Schluss doch noch zum Handlanger der Fanatiker wurde. Ich hatte doch wahrhaftig gehofft, er könnte durch Geralts Einfluss zu einem versöhnlichen Bindeglied zwischen den Parteien werden... Tja, ein bisschen Friede, Freude und Eierkuchen steckt eben selbst in mir... wink


In meinen Augen war das alles andere als ein zufriedenstellendes Ergebnis. Und deswegen hat "Witcher" bei mir einen enormen Bonus, trotz aller Mängel. Kein Friede, Freude, Eierkuchen und "ich bin den guten Weg gegangen", sondern bis zum Schluss nagende Zweifel, ob man sich richtig entschieden habe, ob man nicht anders hätte handeln können und so vielleicht die Situation entschärfen oder zumindest mildern hätte können. Für manche Entscheidungen brauchte ich tatsächlich ziemlich lange - und jede Wahl war nicht ohne Bedenken. Und trotzdem akzeptiere ich, dass man nur diese Wahlmöglichkeiten hatte - in einem Konflikt wie diesem gibt es keine Neutralität, man ergreift selbst dann indirekt für eine Seite partei, wenn man sich heraushält. Einfach deswegen, weil man *zulässt*, dass es weitergeht. Oder, anders gesagt: man (in diesem Fall Geralt) ist *Teil* der Welt. Man kann versuchen, das Gleichgewicht zu wahren, damit der Konflikt nicht ganz und gar ausufert. Aber man kann als Teil der Welt eben *nicht* völlig unbeteiligt bleiben. Das ist es streng genommen ja auch nicht, was unter "Neutralität" zu verstehen wäre. Vielmehr bedeutet Neutralität nur, keine Seite zu bevorteilen. Und da das "danebenstehen und abwarten" durchaus einer Seite zum Vorteil gereichen kann, muss man manchmal eben partei ergreifen, um das Gleichgewicht zu wahren...