Adlerjäger genießt die Strahlen der Morgensonne. Die Wärme tut seinem steifen Körper nach der bitterkalten Nacht gut. Langsam richtet er sich halb auf und schaut über das Tal. Von seinem Lieblingsstein aus kann er sein ganzes Revier überblicken. Vom Fluss am Fuße des Gebirges im Norden bis hin zum Hof des alten Lasse im Süden, vom Wald im Westen bis zum Meer im Osten gibt es keinen Zwei- oder Vierbeiner, der es mit ihm aufnimmt und ihm die Herrschaft über das kleine Tal streitig macht.
Etwas wehmütig schaut er hinüber zu dem alten Kirschbaum, in dessen Schatten die Knochen des Riesenadlers sich blendend weiß aus dem grünen Gras abheben. Drei Tage hat ihr Kampf in den Lüften gedauert. Drei lange Tage, in denen der königliche Vogel ihn weit von seiner Heimat weggetragen hat. Jugendlicher Übermut war es, der ihn den Riesenadler angreifen ließ. Und nur ein glücklicher Zufall brachte ihm den Sieg ein. Einen Sieg, den er schwer verletzt überstanden hat und nach dem er sich in einer völlig fremden Gegend wiederfand. Einer Gegend, so ganz anders als die Regenwälder, in denen er seine Kindheit verbrachte. Die Wunden waren langsam verheilt, aber sein neuer Name, Adlerjäger, ist ihm geblieben.
Fünf Sommer sind seitdem vergangen. Fünf Sommer, in denen er jeden Grashalm, jeden Stein und jeden Bewohner dieses Tals kennen gelernt und seinen alten Namen fast vergessen hat.
Am Anfang gefiel ihm das Leben in diesem Tal. Alles war aufregend und neu. Stundenlang saß er in der Nähe der Bauern oder der Gäste im alten Gasthaus und lauschte den Geschichten der Reisenden. Er vergnügte sich auf der Jagd nach Tieren, die er noch nie zuvor gesehen hatte. Er untersuchte seine neue Heimat und fand schnell seinen Platz unter den Bewohnern des Tals.
Samuel, den dicken Wirt, und ihn verband eine vorsichtige Freundschaft. Samuel stellt ihm oft kleine Geschenke hin, denn Adlerjäger hat ihm einen wahren Zustrom an Gästen gebracht, seit bekannt wurde, dass er es sich oft am Herd des Gasthauses gemütlich macht und den Gästen lauscht.
Auch die Bauern akzeptierten ihn nach anfänglichen Zweifeln, als sie feststellten, dass Adlerjäger dafür sorgt, dass kein Tier im Tal über das Vieh der Bauern herfällt. Und Adlerjäger bekommt dafür gelegentlich kleine Gaben von den Bauern.
So lebte man sorgenfrei nebeneinander her, ohne dem anderen zu nahe zu kommen, und war zufrieden. Gute Nahrung und das friedliche Leben ließen Adlerjägers Kräfte noch weiter anwachsen und formten aus dem kräftigen Jungen einen großen, starken Jäger. Inzwischen ist er so groß, dass er sogar Kem, dem Knecht des Bauern Sam, in dessen Adern angeblich Ogerblut fließt, in die Augen sehen kann.
Aber nun nagt die Langeweile an ihm. Schon seit Beginn des Sommers ist Adlerjäger unruhig. Irgendwas zieht ihn fort, lockt ihn hinaus in die Welt. Er hat sonderbare Träume und er kann Veränderungen in der Beschaffenheit der Kraftfelder um sich herum wahrnehmen. Er verspürt ein starkes Zerren in den Kraftfeldern, die ihn mit dem Rest der Welt verbinden. Und jetzt, wo sich die Blätter der Bäume bunt färben, richtet er nicht wie sonst sein Winterlager in der Scheune von Lea, der Witwe von Sven, her, sondern sitzt stundenlang träumend auf seinem Stein und starrt ins Nichts.
Mit einem letzten Blick auf den toten Adler lässt Adlerjäger sich elegant von seinem Stein gleiten. Es ist Zeit. Hier gibt es nichts, was ihn hält. Etwas und jemand wartet im Süden auf ihn. Niemand kann seiner Bestimmung entgehen, das weiß Adlerjäger. Und es bringt nichts, die unvermeidlichen Dinge aufzuschieben. Wer gegen sein Schicksal ankämpft, zahlt nur mit unnötigen Komplikationen und Problemen.
Es ist Zeit, sich wieder an seinen alten Namen zu erinnern. Er ist Cheveyo, der Geisterkrieger, und die Geister rufen ihn, damit er erfüllt, wofür auch immer er vorgesehen ist.