Wer am Wochenende die neue Team-EM in der Leichtathletik verfolgt hat, der wurde Opfer eines mittelschweren Kulturschocks. Im verzweifelten Buhlen um größere mediale Aufmerksamkeit wurden die altbewährten Regeln durch den Reißwolf gedreht, bis etwas ganz Neues herauskam. Das sah dann so aus:

- Verschärfte Fehlstartregel: Keine Fehlstarts mehr erlaubt! Und ja, das ist eine gute Neuerung. Ursprünglich war ich mal gegen eine solche Verschärfung, aber nach der ersten Stufe (nur noch ein Fehlstart erlaubt) hat sich in den letzten Jahren gezeigt, daß die Sprinter sehr wohl diszipliniert genug sind: Es gibt zwar in rund 90% aller Fälle den einen erlaubten Fehlstart, aber so gut wie nie einen zweiten, der zur Disqualifikation führt. Ergo kann man den Sprintern ruhig auch zumuten, sich gleich beim ersten Versuch voll zu konzentrieren. Und die Team-EM hat das bestätigt: Es gab KEINEN EINZIGEN FEHLSTART an den beiden Tagen. Bitte diese Regel endgültig etablieren!

So viel zum Positiven, der Rest ist (nicht nur) in meinem Urteil leider komplett durchgefallen:
- Im Hoch- und Stabhochsprung sind nur noch vier Fehlversuche je Springer erlaubt. Das soll die Wettkämpfe verkürzen und spannender machen. Nunja, das mit dem Verkürzen hat vielleicht gehauen, aber spannender? In der Praxis sieht das so aus, daß letztlich diejenigen bevorzugt werden, die einen sicheren, konstanten Sprungstil haben und somit bei den niedrigeren Höhen weniger Fehlversuche benötigen. Springer, die - wie etwa Tim Lobinger - gerne schon mal bei vergleichsweise niedrigen Höhen einige Fehlversuche brauchen, um richtig in den Rhythmus reinzukommen, dafür aber auch absolute Spitzenhöhen schaffen können, fliegen vorzeitig raus.
Die Wettbewerbe werden also LANGWEILIGER, weil die absoluten Spitzenspringer (Jelena Isinbajewa, Ariane Friedrich) davon kaum tangiert werden (weil sie sowieso kaum Fehlversuche benötigen), nun aber auch weniger Konkurrenz durch Springer befürchten müssen, die größeren Leistungsschwankungen unterliegen.
Mal ganz davon abgesehen, daß sämtliche Athleten noch stärker als sowieso schon eventuellen Wetterkapriolen ausgesetzt sind. Und auch abgesehen davon, daß die Zuschauer erstens kaum Lust haben werden, ständig mitzurechnen, wer denn jetzt eigentlich noch wie viele Fehlversuche übrig hat - zumal bei den TV-Übertragungen sowieso nur einzelne Springer gezeigt werden und somit die Verwirrung nur noch erhöht wird ... Fazit: Flop, Flop, Flop!!!

- Bei den Langstreckenläufen wurde ein Ausscheidungssystem ausgeführt. Das soll wiederum die Rennen spannender machen, was im Ansatz ja keine schlechte Idee ist, da es für den Zuschauer wirklich recht ermüdend sein kann, 15 Minuten lang einem 5000m-Rennen zuzuschauen. Spannung wird nun also künstlich erzeugt, indem alle paar Runden der jeweils letzte im Rennen ausscheidet.
Hat es funktioniert? Natürlich nicht. Erstens ist es sowohl dem Zuschauer als auch dem TV-Regisseur sch***egal, wenn jemand aus dem Rennen genommen wird, der 300m hinter der Führungsgruppe hinterherhechelt. Zweitens schadet es den Nicht-Top-Läufern, die zu einem unregelmäßigeren Rennen genötigt werden, um nicht auszuscheiden, und dadurch nicht mal ansatzweise die Gesamtzeiten laufen können, die sie eigentlich draufhaben (gerade bei der Jagd nach WM- oder EM-Normen ärgerlich). Und drittens kann es bei engen Rennen wie am Samstag dem 3000m-Rennen der Frauen zu absolutem Chaos führen, in dem keiner weiß, wer jetzt eigentlich ausgeschieden ist. Bei besagtem Rennen war eigentlich die Spanierin als erste ausgeschieden, lief aber weiter und gewann das Rennen! An ihrer Stelle war nämlich - zu Unrecht! - die deutsche Läuferin aus dem Rennen genommen worden ... am Ende wurde die Spanierin zwar disqualifiziert (OBWOHL SIE DIE BESTE LÄUFERIN WAR!!!), aber das hat die Verwirrung im Stadion und an den Fernsehern nur noch gesteigert ...
Fazit: Flop, Flop, Flop, Flop!!!

- Schließlich gab es noch eine neue Regel bei den den technischen Disziplinen (außer Hoch- und Stabhochsprung): Hier durfte nämlich jeder Athlet erstmal nur noch zwei Versuche absolvieren - dann wurde die Hälfte ausgesiebt und nur noch sechs durften zum dritten Versuch antreten. Zum vierten und letzten dann nur noch vier. Auch hier war Zweck der Änderung eine Verkürzung des Wettbewerbs in Verbindung mit einer Erhöhung der Spannung. Was die Verkürzung betrifft: Durch die ständige Verkleinerung der Starterfeldes samt jedesmal neuer Startreihenfolge hat die ganze Veranstaltung trotz deutlich geringerer Anzahl an Versuchen MINDESTENS genauso lang gedauert wie sonst - war aber weit unübersichtlicher, selbst die Athleten wußten teilweise nicht, ob sie jetzt noch mal randürfen oder nicht - ganz zu schweigen von den armen Zuschauern.
Fazit: Flop, Flop, Flop!!!

- Eine Änderung, die nur die Team-EM betraf, war die Erhöhung der teilnehmenden Nationen von 8 auf 12. Auch dies hat nicht geklappt, denn dadurch mußten die Kurz- und Mittelstreckenläufe in jeweils zwei Rennen je Disziplin ausgetragen werden - wodurch dann also der Sieger eines Rennens nicht sofort wissen konnte, ob er auch insgesamt gewonnen hat. Außerdem war das Leistungsgefälle einfach viel zu groß, was auch nicht gerade der Spannung zuträglich ist. Zum Glück betrifft das die normalen Leichtathletik-Sportfeste nicht, aber der EM hat es definitiv geschadet - sie in die Länge gezogen, unübersichtlicher und langweiliger gemacht.

Insgesamt gestehe ich zu, daß man einiges mit gutem Willen unter die Rubrik "Kinderkrankheiten" einordnen kann, die bei weiteren Versuchen nach und nach verringert werden könnten. Dennoch hoffe ich, daß es nicht dazu kommt, denn das hat wahrlich nicht mehr viel mit Sport zu tun. Wie ich in einem Leichtathletik-Forum gelesen habe: Es ist eher "Europa sucht den Super-Leichtathleten" ...
Die verschärfte Fehlstartregel darf und wird wahrscheinlich auch schon bald generell gelten und das ist auch gut so. Den Rest sollte man aber tunlichst wieder einmotten.

Das sehen übrigens die meisten Sportfans und auch die Medien durch die Bank ähnlich, nur der Präsident des Europäischen Leichtathletik-Verbandes hält die neuen Regeln allen Ernstes für einen Erfolg - das läßt schlimmes befürchten ...

Reform der Reform?

Im Gegensatz dazu:
"Experiment gescheitert"

"Regel-Reform in der Leichtathletik scheitert"

Den Zeitplan zu straffen ist ja an sich keine schlechte Idee, nur muß man dafür nicht die Regeln verschlimmbessern, sondern sollte lieber mal dafür sorgen, daß es nicht bei jedem 100m-Vorlauf zu minutenlangen Vorstellungen der Athleten kommt und zu den ganzen anderen unnötigen Verzögerungen, die es immer wieder gibt.

Last edited by Ralf; 22/06/09 12:36 PM.