Nachdem ich die epische Science-Fiction-Rollenspiel/Ego-Shooter-Mischung "Mass Effect 2" nun durchgespielt habe, mein Fazit: Das Spiel hat das Kunststück geschafft, eine genauso tolle Story zu erzählen wie der Vorgänger - und alle anderen Bereiche locker um mindestens eine Klasse zu toppen!

Wenn ich mir mal anschaue, was ich zum ersten Teil alles kritisiert hatte ... zunächst einmal die einfallslosen Nebenquests. Daran wurde besonders stark gearbeitet: Fast alle Nebenquests sind mindestens unterhaltsam, oft einfach großartig und dabei auch noch relativ abwechslungsreich (allerdings wäre in dieser Beziehung durchaus noch etwas mehr Potential vorhanden). Die immer gleichen Planetenerkundungen mit immer gleichen Locations wurden durch durch ein Scannen der Planeten ersetzt. Dabei scannt man nach wertvollen Mineralien und betritt die entsprechenden Planeten nur dann, wenn beim Scannen eine Anomalie entdeckt wurde (was sehr selten vorkommt). Das Scannen selbst ist sicherlich das langweiligste Element des Spiels, aber zu Beginn leider bitter nötig, da man ohne die entdeckten Mineralien kaum Upgrades durchführen kann. Später im Spiel schwimmt man dann allerdings regelrecht in diesen Mineralien (zumindest, wenn man immer wieder mal brav scannt) und kann es deshalb eigentlich auch bleiben lassen. Insgesamt also kein tolles Spielelement und ehrlich gesagt habe ich die Planetenerkundungen des Vorgängers durchaus ein wenig vermißt (hätte man die optimiert anstatt sie einfach fast komplett zu streichen, wäre es IMHO die optimale Lösung gewesen), aber alles in allem funktioniert es gut.

Beim Kampfsystem hatte ich im ersten Teil vor allem kritisiert, daß es zu simpel und die NPC-KI zu dämlich war. In der Fortsetzung bleibt die grundsätzliche Systematik zwar unverändert, durch "Feintuning" (u.a. gibt es keine unbegrenzte Munition mehr und das gelungene Deckungssystem des ersten Teils wurde sinnvoll weiterentwickelt) sind die Kämpfe jedoch deutlich anspruchsvoller geworden. Das bedeutet aber natürlich auch, daß die Gewichtung der Kämpfe im Vergleich zum "klassischen" Rollenspiel-Anteil angestiegen ist, weshalb "Mass Effect 2" für RPG-Puristen sicherlich endgültig nicht mehr das Richtige ist (zumal es nicht mal mehr ein Inventar gibt, was aber IMHO durch das neue und gelungene Upgrade-System nicht wirklich negativ ins Gewicht fällt). Allerdings kann man die Schwierigkeit jederzeit verstellen, weshalb letztlich auch das Kampfsystem keinen wirklich komplett stören dürfte (ich habe das Spiel problemlos im normalen Schwierigkeitsgrad gemeistert). Die KI der Mitstreiter ist erfreulicherweise deutlich gesteigert worden, sodaß sie nun wirklich hilfreich im Kampf beistehen. Die Gegner-KI wurde auch verbessert, ist aber von der Meisterschaft weiterhin um einiges entfernt ...

Besonders genervt hatte mich in "Mass Effect" das ständig wiederkehrende Dechiffrieren-Minispiel, das neben seiner Langweiligkeit auch an einer etwas unsauberen Steuerung (ähnlich wie bei den Mako-Fahrten) litt. "Mass Effect 2" hat dieses Spielelement dankenswerterweise komplett über Bord geworfen und durch immerhin zwei neue Minispiele ersetzt, die zwar auch nicht unbedingt zu Begeisterungsstürmen verführen, mich aber - ähnlich wie die "Bioshock"-Minispiele - bis zum Schluß kein bißchen genervt haben. Mehr kann man von solchen Minispielen wohl kaum verlangen, oder? wink

Nachdem also diese Hauptkritikpunkte des ersten Teils fast vollständig ausgemerzt wurden, kann ich zu den eigentlichen Highlights kommen, die - wie erwähnt - die Qualität von "Mass Effect" nahtlos fortsetzen, teilweise sogar noch übertrumpfen: Vor allem die Spielwelt wirkt noch lebendiger, was vor allem am grandiosen "Heldenimport" liegt, denn fast alle Entscheidungen, die man im ersten Teil getroffen hat - und seien sie noch so unwichtig gewesen - werden hier wieder aufgegriffen, fast jede Person, die man im ersten Teil getroffen hat, taucht hier wieder auf oder wird zumindest irgendwo erwähnt. Sensationell! Genauso sensationell wie allgemein die Dialoge, die meiner Meinung nach sogar noch einen Tick besser geraten sind als im Vorgänger, speziell was den Unterhaltungsgrad jener reinen NPC-Dialoge betrifft, die man immer wieder "im Vorbeigehen" belauschen kann. up
Auch die Partymitglieder sind diesmal noch komplexer und überzeugender gezeichnet - bei jenen, die bereits im ersten Teil dazugehörten, ist das logisch, schließlich kann man ja auf dem Vorgänger aufbauen. Aber auch die (weitaus zahlreicheren) neuen Charaktere sind ausgesprochen gelungen, ebenso die "persönlichen Missionen", die jeder einzelne lobenswerterweise spendiert bekommen hat (deren Fehlen war ja beispielsweise bei "Drakensang" ein großer Kritikpunkt).

Auch die Haupt-Storyline, die fast direkt und auf ebenso überraschende wie begeisternde Art und Weise an das Ende des ersten Teils anknüpft, ist tadellos. Ich habe mich ohne Übertreibung von der ersten bis zur letzen Minute blenden unterhalten gefühlt! Okay, an die beinahe philosophische Tiefe eines "Planescape: Torment" kommt auch "Mass Effect 2" nicht heran, aber seit "P:T" hat mich kaum ein Spiel so sehr gefesselt wie "Mass Effect 2" - das ist Fakt!

Ein weiterer Pluspunkt ist diesmal die wunderschöne Grafik. Vermutlich kommt sie qualitativ nicht an die aktuellsten Ego-Shooter heran, aber das macht sie ja nicht weniger wunderschön. smile Lediglich einige Pflanzen sahen aus der Nähe nicht ganz überzeugend aus, aber ansonsten bin ich immer wieder mal stehengeblieben und habe einfach nur die phantasievoll entworfenen Welten bewundert. Toll!
Ähnliches gilt für die schöne Musik und die herausragende (englische) Vertonung mit zahlreichen hochkarätigen Sprechern inklusive Golden Globe-Gewinner Martin Sheen.

Der Spielumfang ist erfreulich groß geraten - inklusive fast aller Nebenmissionen (einige Planeten habe ich noch nicht gescannt, da gibt es sicher noch ein paar Anomalien zu entdecken) habe ich mehr als 57 Stunden gebraucht! Ich bin allerdings bekennender Komplettist, der sich wirklich JEDEN Dialog komplett anhört und noch die hinterste Ecke jeder Location genau absucht - der Durchschnittsspieler wird also weniger lang brauchen, aber für ein Rollenspiel der heutigen Zeit ist "Mass Effect 2" auf jeden Fall ziemlich umfangreich. smile
UND es ist endlich mal ein Spiel, das (offensichtlich nicht nur) meinen oft geäußerten Wunsch erfüllt, nach dem Ende der Hauptstory weiterspielen zu können - das abrupte Ende von Spielen wie "Drakensang", "KOTOR" oder auch dem ersten "Mass Effect" hat mich schon immer gestört. Allerdings scheint es hier ein paar Bugs zu geben, wenn man weiterspielt, man sollte also vorsichtig mit den Speicherständen für den Import in Teil 3 sein ...

Apropos Bugs: Es gibt fast keine! Das einzige, was mir aufgefallen ist: Auf Tuchanka wurde offenbar vergessen, einen Kroganer zu vertonen, weshalb sein Gesprächspartner ein ziemlich kurioses Selbstgespräch führt (es sei denn, man hat die Untertitel aktiviert grin ). Und auf der Normandy hat Joker zu mindestens einem Partymitglied nichts zu sagen, wenn man ihn nach seiner Meinung fragt.
Achja, und eine Quest auf Omega wird im Tagebuch bei einer Lösungsmöglichkeit nicht als absolviert angezeigt (Erfahrungspunkte u.ä. erhält man aber ganz normal). Ansonsten: Nichts! Noch nicht mal irgendwelche Clipping-Fehler. Beindruckend. up

Noch zwei kleine Mängel: Daß man außerhalb der Missionen nie gehende oder laufende NPCs sieht, wirkt schon etwas komisch ... Ebenso, das wird buad sicher interessieren, hätte ich mich mir etwas mehr Reaktionen der NPCs speziell auf gewisse Party-Mitglieder (Legion) gewünscht. Aber den Spielspaß trübt beides nicht wirklich.
Lob gibt es abschließend noch dafür, daß bereits zum Spielrelease (zumindest zum europäischen) zwei kostenlose "downloadable contents" erhältlich waren, die sehr gelungen sind (inzwischen ist auch noch eine bessere Rüstung für die Spielfigur dazugekommen). Ob ich aber die sicher noch kommenden kostenpflichtigen DLCs kaufen werde - eigentlich bin ich ein Gegner von sowas - weiß ich noch nicht so recht.

Zusammenfassend: Wer "Mass Effect" gespielt hat und es toll fand, der läuft Gefahr, bei "Mass Effect 2" vor Begeisterung einen Herzinfarkt zu bekommen, denn es ist nicht weniger als ein atmosphärisches Meisterwerk!
Wer "Mass Effect" gespielt hat und nicht so toll fand (wie ich), der wird begeistert sein, wie konsequent man die Schwächen des Vorgängers ausgemerzt hat!
Und wer "Mass Effect" nicht gespielt hat, aber durch die Lobeshymnen auf "Mass Effect 2" neugierig geworden ist, dem sei gesagt: Spiel zuerst den ersten Teil durch! Auch wenn er seine Schwächen hat: Wer Teil 1 nicht durchgespielt hat, der weiß gar nicht, was er alles verpaßt, wenn er direkt bei Teil 2 anfängt. Denn "Mass Effect 2" ist eigentlich keine Fortsetzung, sondern der Mittelteil einer Trilogie. Wer "Der Herr der Ringe: Die zwei Türme" sieht, ohne zuvor "Die Gefährten" gesehen zu haben, der wird vermutlich dennoch viel Spaß mit dem Film haben - aber viele Details und Feinheiten einfach nicht mitbekommen oder verstehen. Genauso ist es mit den beiden ersten "Mass Effect"-Teilen.

"Mass Effect" habe ich eine Wertung von 75% gegeben - "Mass Effect 2" erhält locker 95%!

P.S.: Habe gerade noch ein wenig geforscht: Bei der PC Games hatte Teil 1 85%, Teil 2 88%. Bei der Gamestar ist das Bild identisch. Ganz ehrlich, ich kann nicht verstehen, wie man diese beiden Spiele fast identisch bewerten kann. Meiner Meinung nach ist der zweite Teil um Welten besser ...
P.P.S.: Übrigens finde ich es sehr interessant, daß die Normandy in "Mass Effect 2" über Toiletten verfügt. Erst dadurch fragt man sich nämlich, wie (bzw. wo) die Crew eigentlich im ersten Teil ihre Geschäfte verrichtet hat. grin

Last edited by Ralf; 15/02/10 04:21 PM.