Rüdiger Suchsland - sonst bekannt als "Cheffilmkritiker" auf Telepolis... wenn auch für meinen Geschmack dabei mit einem zu deutlichen Hang die Inhalte seiner Betrachtungsgegenstände zu politisieren - nimmt uns im folgenden Artikel mal auf eine kleine Reise durch die westliche Rezeption unseres Lieblingsthemas hier und wie sie sich über das knappe letzte Halbjahrhundert hinweg verändert hat. Interessanter Weise streift er dabei einige Aspekte die wir hier auch schon angeregt diskutiert hatten.
Anime wurden allzu lange im Westen verachtet. Zwar gab es schon in den 50er Jahren erste Anime auf europäischen Filmfestivals zu sehen. Sie stammten von Noburo Ofuji, der immerhin in Cannes einen Kurzfilmpreis gewann. Aber auch in den folgenden Dekaden passierte wenig: Seit den 1970er Jahren tauchten dann im Fernsehen die Kinder-Zeichentrickserien Heidi, Biene Maja, Robin Hood und Wickie auf.
Ihre japanische Herkunft wurde versteckt, nur wenige wussten, woher sie stammten. Die kulturelle Begegnung blieb einstweilen völlig einseitig: Anime-Autoren schlachteten die Nibelungensage und Motive von Jules Verne, die Märchen von Andersen und den Brüdern Grimm und viele andere alteuropäische Kulturquellen ähnlich dreist aus, wie dies das Hollywood-Studio von Walt Disney schon lange getan hatte - allerdings viel viel freier. Weniger beflissen, und zugleich weniger ideologisch.
Die Anime-Aneignung des Europäischen ist eine sehr japanische Art des Umgangs mit fremdem Kulturgut: Es wird hier einerseits nach Gutdünken übernommen, zugleich aber reformuliert, neu verpackt und ganz definitiv in die eigene Kultur integriert, japanisiert: So zum Beispiel ähnelt die Anime-Version der Drei Musketiere in weiten Strecken exakt der Vorlage von Alexandre Dumas - außer einem entscheidenden Unterschied: Aramis ist eine junge Frau, die sich für einen Mann nur ausgibt.
Oder die Anime-Version von Grimms "Aschenputtel"-Märchen: Die ersten und die letzten Kapitel sind nahezu völlig mit der Vorlage identisch. Aber in der Mitte wird die Heldin von Piraten gekidnapped. Die folgende wilde Seeräubergeschichte dient dann außer der Vermeidung von zuvel Betulichkeit nicht zuletzt auch dazu, das Ganze auf größere Länge zu bringen. Denn allzuviel Zeit lassen darf sich kein Anime-Erzähler. Tempo ist oberstes Gebot, und besonders innovativ sind diese Filme darin, in jeden Moment so viel verschiedenen visuellen Inhalt wie möglich unterzubringen.
[b]Märchen und Realismus, Kindergeschichten und Schrecken
Die Ignoranz des Westens dauerte unglaublich lang und endete endete erst 1988. Da tauchte Katsuhiro Otomos düsterer Science-Fiction Akira auf europäischen Leinwänden auf, kurz darauf Isao Takahatas erschütternder Antikriegsfilm Die letzten Glühwürmchen. Beide begeisterten ästhetisch, zugleich konnte man sie nicht mehr wie ihre Vorgänger als Kinderkram abtun.