POLL:

Estland, 1914: Die vierzehnjährige Oda von Siering (Paula Beer), die nach der Scheidung ihrer Eltern viele Jahre lang mit ihrer Mutter in Berlin lebte, überführt nach deren Tod ihre Leiche per Zug nach Estland, wo ihr Vater mit seiner neuen Familie lebt. Ebbo von Siering (Edgar Selge) ist ein Professor der Medizin, der aber seinen Lehrstuhl verloren hat, da er mit ethisch fragwürdigen Experimenten an den Leichen von Kriminellen nachweisen will, daß sich das Böse im Menschen in einer bestimmten Drüse im Gehirn lokalisieren läßt. Oda soll nun ebenfalls bei ihrem Vater leben, hat aber verständlicherweise gewisse Eingewöhnungsprobleme, zumal sie selbst sich sehr verschlossen gibt und auch nicht übermäßig begeistert empfangen wird. Nur ein Halbbruder zeigt (inzestuöses) Interesse an ihr, und ihrem Vater kommt sie durch das Interesse an seinen Experimenten näher.
Doch dann findet Oda einen verwundeten estnischen Anarchisten. Obwohl ihr Vater an ebenjenen Anarchisten bevorzugt seine Experimente vornimmt und zudem mit den russischen Truppen zusammenarbeitet, die gegen die Anarchisten kämpfen, versteckt Oda den Verwundeten - der sich weigert, seinen Namen zu nennen und sich von ihr nur "Schnaps" nennen läßt -, pflegt ihn gesund und verliebt sich in ihn ...

"Poll" ist ein sehr ungewöhnlicher und auch ein sehr schöner deutscher Kinofilm - zumindest, was Optik und Akustik betrifft. Die stilvollen, athmosphärischen Bilder der estnischen Landschaft wirken fast wie Gemälde, die Musik von Annette Focks untermalt die Szenen ausgesprochen stimmungsvoll. Auch die Schauspieler um Edgar Selge, Richy Müller, Jeanette Hain und Newcomerin Paula Beer wissen zu überzeugen. Leider krankt der Film von Chris Kraus ("Vier Minuten") jedoch inhaltlich an einem typisch deutschen Problem: Er erzählt in seinen 140 Minuten seine simple Geschichte sehr, sehr langatmig!
Es ist Regisseur Kraus anzumerken, daß er mit "Poll" ein poetisches Epos in der Tradition eines Terrence Malick (speziell in dessen Frühwerken "Badlands" und "In der Glut des Südens") schaffen wollte. Leider fehlt es dafür vor allem an der Poesie. Denn trotz der aufgezählten Stärken des Films gelingt es ihm so gut wie nie, denkwürdige Szenen oder Dialoge zu bieten. Und immer, wenn es doch mal Ansätze davon zu sehen gibt, werden diese sofort wieder abgewürgt.
Schade um das unverbrauchte, mutige Szenario, denn mit einer inhaltsvolleren, aber dafür stringenter erzählten Story hätte "Poll" ein richtig guter Film werden können. So ist er nur Mittelmaß, das zudem ein gewisses Zielgruppenproblem hat, wie ich selbst erleben durften. Eigentlich zielt "Poll" eindeutig auf das Arthouse-Publikum ab - schreckt dieses dann aber vor allem mit den sehr expliziten Sezier-Szenen des Professors wieder ab, was in meiner Vorstellung zu einer nie zuvor erlebten "Abbrecher-Quote" von zwei Dritteln führte, die den Film bereits innerhalb der ersten Stunde verließen (okay, das sind vier von sechs Zuschauern, was nicht gerade repräsentativ ist, aber trotzdem bemerkenswert wink ) ...
6 Punkte.