X-MEN - ERSTE ENTSCHEIDUNG:

Anfang der 1960er Jahre: Bösewicht Dr. Sebastian Shaw (Kevin Bacon), klassischer größenwahnsinniger Wissenschaftler, will die Welt der Menschen zerstören und treibt dafür USA und Sowjetunion in die Kubakrise, die bekanntlich um ein Haar den 3. Weltkrieg ausgelöst hätte. Aufhalten wollen ihn vor allem zwei Mutanten mit außergewöhnlichen Fähigkeiten: Erik Lehnsherr alias Magneto (Michael Fassbender) und der frisch habilitierte Professor und Telepath Charles X. Xavier (James McAvoy). Mehr oder weniger im Auftrag einer mißtrauischen CIA sammeln sie eine Gruppe junger Mutanten und bilden diese aus, um gegen Shaw und seine Mutanten zu bestehen ...

Erstmal ist es in der heutigen Zeit ja schon bemerkenswert (und IMHO sehr wohltuend), daß tatsächlich noch ein großer, effektlastiger Sommer-Blockbuster in 2D veröffentlicht wird. Lob dafür, aber die Qualität hängt ja letztlich nicht von der Anzahl der Dimensionen ab, sondern von anderen Dingen. Und als bekannt wurde, daß nun auch die erfolgreiche "X-Men"-Trilogie (plus "Wolverine"-Spin-Off) ein Reboot oder Prequel erfahren würde (ein Prequel ist es auf jeden Fall, aber zumindest teilweise auch ein Reboot, denn es gibt etliche Details, die nicht mit den vorherigen Filmen übereinstimmen), habe ich erstmal genauso reagiert wie die meisten anderen: Mit Unverständnis und mit großer Skepsis. Ich glaube, ähnliches habe ich im Winter zu David Finchers "The Social Network" geschrieben und erfreulicherweise komme ich in beiden Fällen zum gleichen Resultat: Ich habe mich geirrt, der fertige Film ist ziemlich großartig!

Bryan Singer, Regisseur und Co-Autor der ersten beiden "X-Men"-Filme, ist diesmal zumindest als Produzent mit an Bord und war auch eine von sechs Personen, die am Drehbuch beteiligt waren. Normalerweise sind so viele Autoren nicht unbedingt das beste Anzeichen und tatsächlich ist die größte Schwäche von "Erste Entscheidung" die klischeehafte Weltvernichtungsstory. Doch in den anderen Bereichen - Humor, Charaktere, Dialoge - merkt man dem Drehbuch die vielen Autoren zum Glück nicht an. Das liegt sicher auch an der ebenso souveränen wie inspirierten Regie von Matthew Vaughn ("Kick-Ass", "Der Sternwanderer"), dem es gelingt, aus den zahlreichen Figuren und Handlungssträngen ein sehr gelungenes Ganzes zu machen.

Die vielleicht größte Stärke des Films ist die Besetzung. Der Deutsch-Ire Michael Fassbender und James McAvoy spielen die Hauptrollen sehr gut, auch Kevin Bacon gibt trotz der Klischeehaftigkeit seiner Figur einen überzeugenden Bösewicht. Fassbender, der ja gewissermaßen einen jungen Sir Ian McKellen spielen muß, tut dies sogar atemberaubend gut, während McAvoy zwar wie angesprochen sehr gut spielt, auf mich aber nicht wirklich wie eine junge Version von Patrick Stewart wirkte.
Doch fast noch beeindruckender als die Hauptrollen sind die Nebenrollen besetzt. Selbst in kleinsten Rollen sind noch solch illustre Darsteller wie Ray Wise, Rade Serbezija, Michael Ironside, Oliver Platt, Glenn Morshower oder Jason Flemyng zu sehen und auch die jungen Mutanten wissen fast durchgehend zu überzeugen (u.a. die jüngst OSCAR-nominierte Jennifer Lawrence aus "Winter´s Bone" als junge Mystique). Lediglich Rose Byrne als weibliche Hauptdarstellerin bleibt etwas blaß und "Mad Men"-Aktrice January Jones wirkt relativ ausdruckslos - was aber durchaus mit ihrer Rolle als Emma Frost zusammenhängen könnte (ich kenne die Comicvorlagen nicht, weshalb mir sowieso mit Sicherheit etliche Anspielungen entgangen sind) ...
Achja, und ein herrliches Cameo eines der Darsteller aus den alten Filmen gibt es auch noch - streng genommen sogar zwei, aber das zweite ist dermaßen kurz, daß ich es im Kino ehrlich gesagt gar nicht begriffen habe. wink

Mindestens so gut wie die Besetzung ist zudem die musikalische Untermalung geraten - was mich umso mehr überraschte, als ich den Komponisten vorher überhaupt nicht kannte (obwohl er bereits "Kick-Ass" komponierte, aber da fiel mit der Score offenbar nicht genügend auf, um auf den Komponisten zu achten). Henry Jackman heißt der Knabe, und diesen Namen sollte man sich merken! Ob treibende Action-Themes, sanfte Untermalung der ruhigeren Szenen oder auch wunderbar groovige 60s-Melodien - es paßt einfach alles und selbst der Abspann-Song von Take That gefällt (klingt allerdings eher nach 80s als 60s ... wink ).

Die Spezialeffekte sind aufgrund eines gesenkten Produktionsbudgets nur selten richtig spektakulär und allgemein für einen Superhelden-Film vergleichsweise spärlich eingesetzt. Aber das schadet überhaupt nicht, da so eben mehr Platz für Handlung und Dialoge ist. smile

Ein paar kleine Kritikpunkte habe ich allerdings auch vorzubringen: Am meisten störte mich, daß etliche Charaktere für meinen Geschmack zu schnell eine recht einschneidende Veränderung durchlaufen. Ich hätte es für deutlich besser befunden, wenn dies zumindest bei einigen von ihnen erst in einer Fortsetzung geschehen wäre. Durch dieses hohe Tempo in der Charakterentwicklung in Kombination mit einem großen Figurenensemble bleiben zwangsweise ein paar dieser Figuren etwas auf der Strecke, wenngleich es "X-Men - Erste Entscheidung" insgesamt durchaus gelingt, eine gute Balance zu finden. Noch besser wäre aber definitiv möglich gewesen mit einem etwas langsameren Erzähltempo. Ähnliches gilt für das klassische "X-Men"-Thema der Toleranz gegenüber Fremdem. Es wird aufgegriffen und das sehr wohl überzeugend - aber eben doch etwas knapp.

Die anderen Kritikpunkte sind dagegen fast vernachlässigbar. Einer trifft sowieso nur auf deutsche Synchronfassung zu, denn den Sprecher des jungen Charles fand ich alles andere als überzeugend - aber er hat sowieso nur ein paar Sätze zu sagen. Etwas ärgerlicher fand ich dagegen, daß speziell in der ersten Filmhälfte in einigen Magneto-Szenen ziemlich offensichtlich wird, daß der Film zugunsten einer niedrigeren Altersfreigabe um ein paar Gewaltspitzen geschnitten wurde. Und wir sprechen hier wohlgemerkt nicht vom Unterschied zwischen "ab 16" und "ab 18", sondern eher von einem zwischen "ab 12" und "ab 16" (auf das amerikanische System übertragen). Soll heißen: Es geht nicht um irgendwelche Splattereffekte, sondern um ein paar eher harmlose Szenen. Hätte man die von vornherein anders gedreht - kein Problem. So merkt man aber einfach, daß es nicht ganz das ist, was sich der Regisseur beim Dreh eigentlich vorgestellt hat ...

Trotzdem, das sind letztlich kleine Schönheitsfehler (von denen letzterer vermutlich über kurz oder lang mit einer längeren DVD-Version mit höherer Altersfreigabe ausgemerzt werden wird), die nichts daran ändern, was "X-Men - Erste Entscheidung" ist: Der mit Abstand beste Film, den ich seit Abschluß der OSCAR-Saison im Februar/März im Kino gesehen habe und einer der besten Sommer-Blockbuster der letzten Jahre. 8,5 Punkte.

Leider wird, wie so oft, hohe Qualität an der Kinokasse nicht wirklich belohnt, denn der Film läuft deutlich schwächer als seine Vorgänger (was aber sicherlich auch an der mäßigen Publikums-Aufnahme des direkten Vorgängers "Wolverine" liegt). Die Einspielergebnisse sollten aber dennoch für eine Fortsetzung reichen, zumal die DVD-Vermarktung sicherlich prima laufen wird. Und bei Filmreihen ist es ja ein bekanntes Phänomen, daß meist der Film NACH einem besonders guten sehr erfolgreich läuft, weil alle hoffen, daß er genauso gut wird wie der Vorgänger, den man womöglich erst auf DVD oder im TV gesehen hat (zuletzt bei den James Bond-Filmen "Casino Royale" und "Ein Quantum Trost" erlebt) ...